Bereits zum dritten Mal war ich dieses Jahr Mitglied der Bloggerjury für „Das Debüt“ – Bloggerpreis für Literatur 2019, der, der Name verrät es, ein besonders gelungenes Debütwerk deutscher Sprache auszeichnen möchte.
Wieder haben sich Bozena, Sarah und Janine vom Blog „Das Debüt“ wie jedes Jahr durch einen Stapel zum Preis eingereichter Debütromane (dieses Jahr stattliche 80) hindurchgelesen und und daraus eine Shortlist zusammengestellt, bestehend aus fünf Titeln. Wir Juryblogger haben also eine kleine, feine Auswahl, der wir uns dann in aller Ruhe widmen können.
Bisherige Preisträger
2016 – Shida Bayzar – Nachts ist es leise in Teheran
2017 – Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie
2018 – Bettina Wilpert –Nichts was uns passiert
die shortlist 2019
2019
In diesem Jahr war die Shortlist wieder anders als erhofft und hat mir die Entscheidung ganz schön schwer gemacht. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren war kein Buch dabei, dass mir so gar nicht gefallen hat. Alle hatten ihre Vorzüge und ihre Schwächen. Es gab allerdings nur eines, das mir wirklich richtig gut gefallen hat. Dieser Favorit stand dann ziemlich sofort fest. Am liebsten hätte ich alle Punkte auf meinen Spitzentitel vereint – das hätte mir die Verteilung von 3/1/0 Punkten erspart, die tatsächlich schließlich ein wenig nach Bauchgefühl erfolgte, da mich alle Titel nicht wirklich überzeugten.
So, nun aber der langen Rede kurzer Sinn: hier seht ihr meine Einzelwertungen:
Meine Wertung:
Martin Peichl – Wie man Dinge repariert
„Das Leben eines Großstädters in seinen Dreißigern. Eigentlich will er nur seinen Roman fertigschreiben, doch das Leben kommt ihm ständig dazwischen. Sein Beziehungsstatus ist mehr als kompliziert, der tote Vater hinterlässt ihm ein Waldstück, mit dem er nichts anzufangen weiß, und das nächste Bier ist immer etwas zu schnell offen. Aber unterkriegen lässt er sich deshalb noch lange nicht …
Martin Peichls Roman ist das sympathische Porträt einer Generation, die sich weigert, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Leider steht ihr die Sehnsucht nach Normalität dabei manchmal im Weg.“
Edition Atelier, gebunden mit Lesebändchen, 160 Seiten, 18 €
Meine Meinung:
Zunächst einmal: Martin Peichl kann wunderbar mit Sprache umgehen. Darin hat er mich eigentlich durchgehend überzeugt. Weshalb das Buch aber dennoch ohne Punkte auskommen muss, liegt in dem von mir nicht verborgenen Primat, das ich dem Inhalt vor allem Stilistischen oder Künstlerischen einräume. Und über den Inhalt konnte mich der Roman nicht packen. Mich interessieren generell sehr selten Liebes-, Beziehungs- oder gar Sexgeschichten. Und schon gar nicht, wenn dort Probleme aufgehäuft werden der Art – ich will mich nicht binden/ich will aber jemanden haben, ich will eine auf ständigem Sex aufgebaute Beziehung/ich will was wirklich Tiefes, ich bin über Dreissig/ich will keinerlei Verantwortung übernehmen – dafür ist mir meine Lesezeit eigentlich zu schade, das habe ich schon zig mal gelesen.
Wenn Martin Peichl aber von diesen Gefühlsverwirrungen seines Protagonisten loskommt, sein Verhältnis zum unlängst verstorbenen Vater beschreibt, über seine Mutter spricht oder über den jung verstorbenen Freund, dann ist das ganz großartig – aber leider immer wieder viel zu schnell vorbei. Mehr davon und dieses Buch hätte es auf einen der vordersten Plätze geschafft. Ich werde den Namen Martin Peichl auf jeden Fall im Auge behalten.
Ana Marwan – Im Kreis des Weberknechts
„Karl Lipitsch mag keine Menschen. Er wohnt alleine, da er eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft hegt und Gespräche meiden möchte. Häufig sitzt er lesend im Garten oder schreibt an seiner umfassenden philosophischen Abhandlung. Doch die Überzeugung, fortan als Einsiedler in Einsamkeit zu leben und damit glücklich zu sein, gerät schnell ins Wanken. Durch einen Zufall (sofern es denn tatsächlich einer war) macht er nähere Bekanntschaft mit seiner Nachbarin Mathilde. Beide umkreisen den anderen, jeder in der Überzeugung, der Überlegene zu sein. Und so beobachten wir Lipitsch bei seinen Bemühungen, ihr nicht ins fein gesponnene Netz zu gehen. Doch je mehr Lipitsch zappelt, desto kräftiger verfängt er sich in Mathildes Fäden…
Ana Marwan ist mit ihrem Roman „Der Kreis des Weberknechts“ ein herrlich ironisches Debüt gelungen. Vor einem klugen philosophisch-literarischen Diskurs entfaltet die Autorin ihre feinen Beobachtungen des Zwischenmenschlichen, die sie schonungslos entlarvt und zur Schau stellt.“
Otto Müller Verlag, 196 Seiten, gebunden, € 22,00
Meine Meinung:
Auch Ana Marwan kann hervorragend mit Sprache umgehen. Poetisch und ironisch erzählt sie von den Liebeswirren ihres reichlich verschrobenen Protagonisten. Das liest sich schön bis amüsant, ich konnte aber für mich nichts an Mehrwert entdecken. Die „feinen Beobachtungen des Zwischenmenschlichen“ und der „philosophisch-literarische Diskurs“ der Verlagsankündigung waren wohl vorhanden, verfingen bei mir aber nicht. Karl Lipitsch blieb für mich stets der bemitleidenswerte, seltsame Kauz, als der er von Anfang an vorgestellt wurde, mehr Karikatur als Mensch aus Fleisch und Blut. Er kam mir weder nah, noch lockte er Widerstände hervor, noch war er übermäßig unterhaltsam.
Zwar gab es immer wieder herrliche Sätze wie „Es liegt in der Natur der Frau, sich allen Wünschen zu widersetzen.“, wegen seiner schönen Sprache habe ich dann doch mit mir gerungen, letztlich aber dennoch keine Punkte.
Angela Lehner – Vater unser
„Ausgezeichnet mit dem Debütpreis des Österreichischen Buchpreises 2019: „Angela Lehners fulminanter Roman, unsentimental, frech und direkt erzählt, ist Familiengeschichte, Krankenhausreport und Krimi in einem.“ Jury des Österreichischen Buchpreises
Die Polizei hat sie hergebracht, in die psychiatrische Abteilung des alten Wiener Spitals. Nun erzählt sie dem Chefpsychiater Doktor Korb, warum es so kommen musste. Sie spricht vom Aufwachsen in der erzkatholischen Kärntner Dorfidylle. Vom Zusammenleben mit den Eltern und ihrem jüngeren Bruder Bernhard, den sie unbedingt retten will. Auf den Vater allerdings ist sie nicht gut zu sprechen. Töten will sie ihn am liebsten. Das behauptet sie zumindest. Denn manchmal ist die Frage nach Wahrheit oder Lüge selbst für den Leser nicht zu unterscheiden. In ihrem fulminanten Debüt lässt Angela Lehner eine Geistesgestörte auftreten, wie es sie noch nicht gegeben hat: hochkomisch, besserwisserisch und zutiefst manipulativ.“
Hanser Berlin, 284 Seiten, Fester Einband, 22,00 €
Meine Meinung:
Ganz unvoreingenommen bin ich in die Lektüre dieses Romans zugegebenermaßen nicht gegangen. Das Buch ist ein ganz großer Bloggerliebling, besonders auf Instagram wurde er sehr gehypt, dazu kommen eigentlich ausschließlich positive Stimmen auch aus dem Feuilleton plus Franz-Tumler-Literaturpreis, Literaturpreis Alpha, Debütpreis des Österreichischen Buchpreis und Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreis. Die Lektüre eines solchen Buches, besonders wenn es ursprünglich nicht auf meiner Lese/Interessensliste stand, macht mir ehrlicherweise immer etwas Angst, gerade auch wenn ich die Autorin noch dazu so sympathisch finde. Die Erwartungen sind da oft (zu) groß.
Und auch hier trat das mir bekannte Szenario ein: Das Buch sagt mir nichts. Die Idee und Umsetzung einer unzuverlässigen/manipulativen Ich-Erzählerin ist zwar gut und auch schlüssig umgesetzt, dennoch habe ich mich größtenteils gelangweilt, da es mir nicht gelang, mich für die Geschichte wirklich zu interessieren. Ich fand die Protagonistin weder faszinierend noch sympathisch, konnte allenfalls ein wenig Mitgefühl für den magersüchtigen Bruder entwickeln, der meiner Meinung nach aber von der Schwester nicht gerettet, sondern akut bedroht wird. Die Reaktionen von ihm, seiner Mutter, dem Arzt waren für mich nicht plausibel (auch wenn man die natürlich verfälschende Perspektive von Eva Gruber berücksichtigt) und am Ende fragte ich mich einfach nur: Was soll das? Aber diese Frage wurde mir natürlich nicht beantwortet, genauso wenig wie was in dieser Familie tatsächlich vorgefallen ist. Ist wahrscheinlich gut so. Das Buch hat viele viele Fans. Mich braucht es nicht.
Dennoch 1 Punkt für Idee und Umsetzung der unzuverlässigen Erzählerin.
Katharina Mevissen – Ich kann dich hören
„Osman spielt. Er soll es regnen lassen, doch seine Musik lässt sich nicht erweichen. Und daran ist sein Vater nicht allein schuld. Sehr vieles gerät erst in Bewegung, als er hört, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Ein schalldichter Raum. Draußen die Großstadt. Osman Engels übt Cello. Er spielt an gegen unsichtbare Hindernisse, die irgendwo in seiner Vergangenheit liegen und denen er auf dem Fußballfeld besser ausweichen kann. In seiner Welt ersetzt Musik schon lange die Worte. Er kann selbst nicht gut zuhören, nichts festhalten, ohne Kontaktlinsen auch schlecht sehen.
Als er ein zufällig gefundenes Aufnahmegerät abhört, wird er zum Ohrenzeugen einer Beziehung, die auf ganz andere Art laut ist. Seine Mitbewohnerin Luise lernt derweil im Nebenzimmer für ihre Prüfung, manchmal rauchen sie gemeinsam am offenen Fenster, kochen Knoblauchnudeln, bringen Altglas zum Container. Sie verstehen sich, ohne sich richtig anzufassen, denn auch mit der Liebe fangen sie gerade erst an. Als sein türkischer Vater, ebenfalls Musiker, sich das Handgelenk bricht und Tante Elide, seine Ziehmutter, nach fast zwanzig Jahren in Deutschland plötzlich nach Paris gehen will, ist Osman gezwungen, ein paar Dinge aufzuräumen, ein paar Fragen zu stellen.
Der Roman erzählt von einem jungen Mann, dem Augen und Ohren geöffnet werden, und von einer Frau, die in der Stille lebt. Es geht um Vater-, Mutter- und Gebärdensprache und um die berührende Kraft von Musik. Ungewöhnliche Themen, eindringliche Bilder. Ein großes Talent.“
Wagenbach Quartbuch, 168 Seiten. Gebunden, 19,– €
Meine Meinung:
Mit der Bewertung dieses Buchs habe ich mich am schwersten getan. Es ist dasjenige, das ich sprachlich am wenigsten gelungen fand. Das liegt zum einen an der nicht ganz überzeugenden Art, wie die türkischstämmige Elterngeneration, vor allem die sprachlich hochgebildete Tante Elide des Erzählers Osman, reden. Ein für mich relativ unmotivierter Perspektivwechsel im Buch konnte mich genauso wenig überzeugen wie der Inhalt von gefundenen Tonaufzeichnungen, die von der Schwester einer gehörlosen jungen Frau stammen, der für mich völlig beliebig war, zumindest nicht die große Faszination die Osman dafür empfindet, erklären konnte.
Dennoch stelle ich das Buch auf Platz 2 meiner Rangliste. Ich mochte die Art, wie die Autorin über Musik schreibt, mich berührten die Probleme in der Beziehung von Osman und seinem Vater, der auch Musiker ist, seine Verletzung durch das frühe Verlassenwerden durch seine deutsche Mutter und mich interessiert sein Verhältnis zur Tante. Sie war eine emanzipierte Türkin, auf dem Weg zu einem Studium in Frankreich, als Suats Frau ihn und die beiden Söhne verließ. Aus Verantwortungsgefühl für die Familie gab sie ihre eigenen Pläne auf und sorgte für Osman und seinen Bruder. Ein Verantwortungsgefühl, das der Vater nie aufbringen konnte.
Es geht auch um die Reibungen, die entstanden, als sich die erste Generation türkischer Migranten hier in Deutschland heimisch zu machen versuchten und um die Möglichkeit, in einer anderen Sprache oder auch der Sprache der Musik eine Heimat zu finden. Die zarte Art der Schilderung Katharina Mevissens gefällt mir genauso wie die beigefügte Playlist, die das Gelesene schön unterstützt. Deshalb hierfür 3 Punkte.
Nadine Schneider – Drei Kilometer
„Rumänien 1989: Die Hitze ist drückend, das Getreide steht hoch, sonst würde man bis zur Grenze sehen können. Der Gedanke an Flucht liegt verlockend und quälend nahe, noch weiß niemand, was kommt und was in ein paar Monaten Geschichte sein wird. In einem Dorf im Banat, weit weg von Bukarest, dem Machtzentrum des Ceaușescu-Regimes, erlebt Anna einen Spätsommer von dramatischer und doch stiller Intensität. Sie ist hin- und hergerissen, nicht zuletzt zwischen Hans, ihrem Geliebten, und Misch, dem gemeinsamen Freund. Bei wem will sie bleiben? Mit wem will sie gehen? Und ist Hans tatsächlich ein Spitzel, wie Misch vermutet? Mit diesen Fragen bewegt sich Anna plötzlich gefährlich nahe an der Grenze zwischen Treue und Verrat.
Atmosphärisch dicht und schnörkellos erzählt Nadine Schneider von den persönlichen Verstrickungen in einer Zeit vor dem politischen Umsturz. Und davon, was es braucht, um zu bleiben – oder was es bedeutet, sein Land zu verlassen, für sich und die, die man zurücklässt.“
Jung und Jung, 160 Seiten, gebunden, € 20,–
Meine Meinung:
Dieses Buch ist mein Favorit und erhält 5 Punkte.
Zunächst interessiert mich das Setting: die letzten Tagen des Ceaușescu-Regimes im rumäniendeutschen Banat. Eine junge Frau im Konflikt zwischen zwei Männern, zwischen Gebundenheit zur Familie und dem Wunsch nach Freiheit, zwischen Heimat und dem Aufbruch ins Neue und Unbekannte. Nur drei Kilometer trennen sie von der Grenze. Diesen Konflikt so überzeugend wie berührend und lakonisch darzustellen, gelingt Nadine Schneider perfekt. Ihre Sprache ist reduziert und klar und dennoch poetisch.
Zu diesem Roman wird es in der nächsten Zeit noch eine ausführliche Rezension geben.
So, das war meine Wertung. Die Jury hat mittlerweile entschieden und ich bin froh und glücklich, dass meine Favoritin, Nadine Schneider, gewonnen hat.
herzlichen Glückwunsch!
Wertungen der anderen Jury-Blogger findet ihr hier:
Leckerekekse
Ruth liest
Die Auswertung könnte ihr bei Das Debüt nachlesen.
Vielen Dank für diese ausführliche Besprechung des Bloggerpreises – den ich übrigens bislang gar nicht kannte, wobei ich die vergangenen Jahre auch wenig auf Buchblogs unterwegs war, nach einer sehr intensiven Zeit. Nun gut.
Du beschreibst hier ganz wunderbar die Subjektivität von Literatur, die letztlich die Subjektivität des Lebens widerspiegelt, die in einer Welt die mehr und mehr von Dualitäten getrieben ist ein wenig ins Hintertreffen gerät. Das ist schade, denn die Debatte, der Austausch sind doch die intellektuellen Stimuli die uns wach halten und in einer Demokratie zu gesunden, vernünftiegen Entscheidungen führen. Schön auch, das du mit «ein besonders gelungenes Debüt» versuchst, diese Perspektive auch in Worte zu fassen.
Den Gewinner des vergangenen Jahres «Nichts was uns passiert» von Bettina Wilpert habe ich mir dann auch gleich notiert und die Gelegenheit genutzt, deinen Beitrag auch zu kommentieren.
Und ja, Blogs und das heraustreten aus der eigenen Blase – die bspw. das Feuilleton oft per se darbot und -bietet ist wichtig und richtig. Ich stimme dir also vollkommen zu wen du sagst «(…) hier liegt der Reiz: aus der Leseecke herausgelockt zu werden, Titel zu entdecken, die nicht zu 100% der Lektüreblase entsprechen. Manchmal mit ganz wunderbaren Ergebnissen»
Außerdem ist diese Blase, die natürlich auch innerhalb der Bloglektüre auftritt, langweilig. Ich möchte gar nicht (mehr) fünf Besprechungen lesen zum selben Buch das nun zufällig gerade herauskommt. Das macht den Feedreader öde.
Lieber Konstantin, danke für deinen Kommentar. Der Debütpreis ist ein kleiner feiner Preis, der seit vier Jahren existiert und zwar auf Initiative der Betreiberinnen des gleichnamigen Blogs. Ich durfte schon zu dritten Mal daran mitwirken, was wirklich eine Freude ist. Schön, dass ich dein Interesse wecken konnte. Viele Grüße!