Mira ist Anfang Dreißig, beruflich erfolgreich, ungebunden, ein wenig einsam, in eine außereheliche Affäre verstrickt. Charakterlich ist sie nicht ganz unangreifbar, öfters zynisch, manchmal verletzlich, aber kämpferisch und sehr reflektiert. Was sie über diese Charakterisierung hinaus, die auf unzählige andere Frauen ihres Alters ebenso zutreffen könnte, für einen Roman interessant macht, ist ihr Arbeitsplatz. Mira Weidner arbeitet an vorderer Front für die Vereinten Nationen. Nora Bossong schreibt in ihrem Roman „Schutzzone“ über sie.
Im vergangenen Jahr war das Buch für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert, schaffte es aber wider Erwarten (und meiner Meinung nach zu Unrecht) nicht auf die Shortlist desselben. Dabei wurde hier ein nicht nur aktuelles, sondern auch sehr selten in der Literatur verhandeltes Thema gewählt und gut umgesetzt.
Kindheit in Bonn
Mira wächst im Zentrum der alten Bundesrepublik, in Bonn auf. Sie ist neun, als die zerrüttete Ehe ihrer Eltern scheitert und weder Vater noch Mutter sich imstande sehen, Mira bei sich zu behalten. Das Mädchen landet bei einer befreundeten Familie. Vater Darius ist im diplomatischen Dienst und wird für Mira so etwas wie ein Vaterersatz. Auch der acht Jahre ältere Sohn Milan nimmt die Rolle eines älteren Bruders an. Mutter Lucia ist kühl, elegant und streng, achtet auf die richtigen Umgangsformen.
Es war wohl keine ganz unglückliche Zeit, die Mira in diesem großbürgerlichen Haus verbrachte, aber ganz ohne Verletzungen kann sie daraus nicht vorgegangen sein.
uno
Mira studiert Internationale Beziehungen in New York und landet eher zufällig durch ihre Begegnung mit Daven bei der UNO. Zunächst assistiert sie diesem, bereitet seine Auslandsreisen vor, 2012 wird sie zum ersten Mal auf eine eigene Mission geschickt. Ziel ist Burundi. Wie im Nachbarland Ruanda, aber weniger beachtet, fanden hier blutige Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen der Tutsi und Hutu statt. Bereits vor den schrecklichen Ausmaßen, die dieser Konflikt 1994 in Ruanda annehmen sollte, kam es in Burundi zu Massakern, die die Qualität von Völkermorden annahmen. 1972, 1988 und 1993 forderten diese Genozide geschätzt bis zu 500.000 Tote.
Mira soll für die UN Befragungen in der Bevölkerung durchführen, die bei der Einrichtung von sogenannten „Wahrheitskommissionen“, die das zutiefst gespaltene Land wieder zusammenbringen sollen, Verwendung fänden. Eine Freundin kümmert sich um vergewaltigte Frauen und versorgt diese mit Medikamenten, die sie vor einer Ansteckung mit HIV schützen sollen.
Nora Bossong lässt ihre Geschichte von Mira in etlichen Zeitsprüngen und Ortswechseln erzählen. Die kurzen Abschnitte sind dabei immer gekennzeichnet: die Kindheit 1994 in Bonn, die Zeit in New York 2011, die Mission in Bujumbura, dem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum Burundis, 2012 und 2015. All dies sind Rückblicke.
Die Gegenwartsebene liegt im Jahr 2017. Mira arbeitet mittlerweile in Genf und bereitet Verhandlungen zwischen den beiden Parteien im Zypern-Konflikt vor. Dabei begegnet sie nach vielen Jahren Milan. Zwischen den beiden ehemaligen Quasi-Geschwistern entbrennt eine Affäre, obwohl Milan mittlerweile Familie hat. Sie wird nicht glücklich enden.
ambivalente charaktere
Nora Bossong bleibt stets nah an ihrer Ich-Erzählerin dran. Diese ist aber wie alle Personen im Roman durchaus ambivalent gezeichnet. Tatsächlich bietet sie wenig Identifikationspotential. Ihre vielleicht zu Beginn idealistisch begonnene Arbeit wird bald zur Routine. Zynismus und Desillusionierung macht sich breit. Es geht Mira nicht anders als den anderen Vertretern der Regierung oder von NGOs. Man lebt in abgeschotteten Hochsicherheits-Camps, verbringt den Nachmittag am Pool, feiert am Abend alkoholreiche Partys.
Im steten Kampf mit der Bürokratie entwickeln die UNO-Mitarbeiter bei Nora Bossong eine Art Spiel, das Nilpferdspiel. Man versucht, in einem offiziellen Papier das Wort Nilpferd an verschiedenen, sinnfreien Stellen zu platzieren und schaut, wie viele offizielle Stellen das Papier passiert, ohne dass das beanstandet würde. Bei Nora Bossong sind die Mitarbeiter im Auslandseinsatz alle entweder ernüchterte Idealisten oder aber ruhelose Abenteurer, die meisten sitzen ihre Zeit im Ausland ab, bis sie zur nächsten Karrierestufe durchgereicht werden. Ein ziemlich desillusionierender Blick auf die Arbeit der UN und der Entwicklungshilfe.
ein rebellenführer
Ein weiterer, sehr ambivalenter Charakter ist der Rebellenführer mit dem bezaubernden Namen Aimée, den Mira zum Interview trifft. Wahrscheinlich in blutige Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstrickt, ist er dennoch charmant und intelligent und übt durchaus eine Faszination auf die junge Frau aus. Er sagt die Worte:
“Ich weiß zwar nicht, was wir ohne Sie tun würden, aber noch weniger weiß ich, was Sie ohne uns täten.“
Trotzdem kommt die Arbeit der UNO im Roman United Nations Photo nicht so schlecht weg, wie es vielleicht klingen mag. Sie erscheint immer noch als eines der besten und unbedingt unterstützenswerten Projekte der Menschheit. Aber auch eine der gefährdetsten und schwierigsten.
„Menschen sind immer ein Problem, und das Problem werden Sie nicht los.“
Und die für die UNO arbeitenden Diplomaten, die Blauhelmsoldaten, die Vertreter in der Wahrheitskommission, die Teilnehmer am internationalen Gerichtshof sind genauso Menschen wie die Politiker, die Lobbyisten, der „einfache“ Mann.
frieden, wahrheit, gerechtigkeit, versöhnung
Nora Bossong geht es in „Schutzzone“ um die ganz großen Begriffe, wie „Frieden“, „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Versöhnung“, wie sie ihre Buchteile betitelt. Und bricht sie herunter auf das Menschliche, Machbare, Greifbare. Und lässt Ambivalenzen zu. Ideale treffen auf Wirklichkeit, Hoffnung auf Zynismus. Was ist moralisches Handeln?
Nora Bossong gibt keine klaren Antworten, „Schutzzone“ ist kein kämpferischer, kritischer Roman. Der Ton ist melancholisch, elegisch, ohne eine ganz klare Haltung. Er ist eher privat. Und auch bei Mira mischen sich Privates und Politisches immer wieder.
Das Parallelsetzen ihrer Arbeit und ihrer Liebesgeschichte mit Milan gelingt dabei meines Erachtens nicht ganz überzeugend. Beide bleiben doch recht separat und beziehungslos nebeneinander stehen. Die „Schutzzone“ der Familie oder einer glückenden Beziehung steht Mira nicht zur Verfügung. Darunter leidet sie.
großartige Sprache
„Schutzzone“ ist ein äußerst reflektiertes Buch, sehr ernsthaft, aber nicht didaktisch. Durch seine Kühle und Ambivalenz lässt es eine leichte Identifikation nicht zu. Sprachlich ist es ganz hervorragend und variantenreich wie seine Autorin, die sowohl Verfasserin von Reportagen, Romanen als auch Lyrikerin ist. Einen Platz auf der Shortlist hätte es auf jeden Fall verdient gehabt. Für mich ist es einer der interessantesten deutschen Romane in 2019.
Weitere Besprechungen bei Literatur leuchtet, Buch-Haltung und Letteratura
Weiteres Hintergrundwissen liefert ein Hintergrund-Dossier, das der Suhrkamp Verlag zusammengestellt hat
Ein Roman über die Vorgänge in Burundi, der mich sehr begeistert hat, stammt von Gael Faye – Kleines Land
Beitragsbild von Chickenonline auf Pixabay
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Nora Bossong – Schutzzone
Suhrkamp September 2019, Gebunden, 332 Seiten, 24,00 €
Das Buch hat grosse Qualitäten, wie sie hier zu recht gewürdigt werden, aber es ist definitiv kein gelungener Roman. Vom Thesenroman unterscheidet es sich dadurch, dass hier nicht eine These abgehandelt wird, sondern ein hochkomplexes Thema in seiner Ambivalenz und seinen Facetten. Das Buch IST dieses Thema, nämlich die UNO und die Menschenrechte. Ganz wie beim Thesenroman sind die Figuren in diesem Themenbuch aber leblos und papierig. Mir scheint es, Frau Bossongs Könnerschaft kommt in den später erschienen hervorragenden politischen Essays, die sich demselben Thema zuwenden, viel besser zum Ausdruck als in diesem „Roman“, wo die todernste Hauptfigur – nebst der seltsam unverbundenen parallel laufenden Geschichte um ihre Kindheit und schwierige Beziehung zu einem Mann – nichts anderes tut als über die grossen Fragen um Frieden, Gerechtigkeit, Wahrheit und Versöhnung zu reflektieren bzw. andere denken über sie und ihre Ambivalenz nach: Sehr ermüdend als Geschichte, denn es ist eine sehr „bemühte“ Geschichte.
Hallo,
auf das Buch bin ich neugierig, seit Thea Dorn es ins Literarische Quartett mitgebracht hat und es dort krass unterschiedliche Meinungen hervorrief! Besonders Sibylle Berg fand es ja ganz schauderhaft – aber wenn ein Buch die Gemüter scheidet, will ich es oft erst recht lesen. Nach dem, was du so schreibst, klingt es auf jeden Fall so, als sei das Buch es wert, sich seine eigene Meinung zu bilden.
LG,
Mikka
Unbedingt, liebe Mikka. Es gibt jede Menge negative Meinungen zum Buch, etliche haben es abgebrochen (laut Instagram) und auch ich fand nicht alles perfekt. Dennoch für mich eines der interessantesten, auch sprachlich besten deutschsprachigen Bücher des Jahres. Viele Grüße!