Besitzt das Leben einen abnehmenden Grenznutzen? Das ist eine der Fragen, die sich der Protagonist in „Gegen Morgen“, dem neuen Roman von Deniz Utlu, stellt.
„Existiert ein Punkt im Leben, an dem ein betrachtetes Individuum das Leben satt hat, weil zusätzliche Lebenseinheiten kaum mehr einen zusätzlichen Nutzen bringen?“
Eigentlich soll Kara, 32, studierter Volkswirt in Berlin, für eine Versicherungsgesellschaft die „erwartbaren Kosten eines Lebens“ berechnen. Gedacht, um Versicherungssummen besser kalkulieren zu können, trifft diese Aufgabe Kara gerade an einem heiklen Punkt seines eigenen Lebens. Er scheint in einer existentiellen Sinnkrise zu stecken, viele wichtige Fragen, die sich in diesem Alter verstärkt stellen, die nach der Familienplanung, die nach der beruflichen Zukunft oder auch nur die des zukünftigen Wohnorts, scheinen für Kara in der Schwebe zu hängen.
Zwar befindet er sich zu Beginn des Romans auf dem Flug von Berlin nach Frankfurt, um dort seine Freundin Nadia zu besuchen, aber eigentlich ist er sich sicher, diese Beziehung gar nicht mehr fortführen zu wollen, besonders da Nadia in letzter Zeit immer häufiger den Wunsch äußerst, ein Kind zu wollen. Karrieremäßig läuft es auch nicht so wie erwartet und der beste Freund Vince, mit dem er seit Studientagen in einer WG in Schöneberg wohnt, ist ausgezogen, um zu heiraten. Kara hängt in der Luft, der Absturz droht.
turbulenzen
Im wahrsten Sinne des Wortes: das Flugzeug, in dem sich Kara befindet gerät durch ein Unwetter in schlimme Turbulenzen. Es muss in Hannover notlanden. Kara ist in Hannover aufgewachsen, seine Mutter lebt noch immer dort. Und plötzlich gleitet die Geschichte ins leicht Surreale.
Kara besteht darauf, das Flugzeug zu verlassen. Es ist „gegen Morgen“, der Schlafmangel zehrt an ihm, seine Nerven sind überreizt, er meint, in der Kabine einen lang vermissten Freund, Ramón, entdeckt zu haben. Dieser lebte sechs Jahre lang mal mehr, mal weniger mit Kara und Vince zusammen. Weniger als Mitbewohner denn als jemand, der sich eine Matratze erschnorrt, aus ärmlichen Verhältnissen in Hellersdorf stammend, ein typischer Verlierertyp, der immer wieder das Studium abbrach, in zwielichtige Geschäfte verwickelt war, der WG Drogen besorgte. Irgendwann verschwand er und Kara und Vince haben nicht weiter nach ihm gesucht. Etwas, dass Kara nun als schreckliches Versäumnis erscheint. Er beschließt, Ramón nun nachzuspüren.
Spätestens hier wird das Erzählte flirrend, verschieben sich Realität und Fantasie, Wirklichkeit, Wahn und Traum ineinander. Während Kara bei seiner Mutter unterkriecht und er auf sein jüngeres Ich und die Zeit in der WG zurückblickt, werden Zeit und Raum, aber auch die Einheit der Personen immer mehr aufgehoben. Was geschieht jetzt, was liegt in der Vergangenheit? Was ist Erinnerung, was Traum? Sind Vince und Ramón tatsächlich reale Personen? Wo kommen plötzlich die großen schwarzen Hunde in Karas Wohnung her? Das macht die Lektüre von „Gegen Morgen“ nicht unbedingt leicht, ist von Deniz Utlu aber sicher so gewollt.
Neben der Frage nach der Verantwortlichkeit gegen den anderen (Ramón), wird immer wieder die Frage nach der Bilanz eines Lebens gestellt. Kann man die genutzten Chancen mit den verpassten Gelegenheiten verrechnen? Je mehr Kara die Wirklichkeit zu entgleiten scheint, umso mehr stürzt er sich in die Welt der mathematischen Formeln.
„Es muss eine Formel für falsch getroffene Entscheidungen geben. Eine Formel gegen die Sinnlosigkeit.“
leben oder tod
Wie weit kann man sich im Leben absichern? Und wie lange ist dieses zunehmend abgesicherte Leben dann noch ein Leben und ähnelt nicht dem Tod?
Diese Gedanken sind sicher interessant, aber Deniz Utlu überreizt gerade den volkswirtschaftlichen Ansatz für mein Empfinden etwas, verliert sich in lange Exkurse, stellt Formlen auf – Utlu ist studierter Volkswirtschaftler. Zudem verliert die Leserin zunehmend die Orientierung. Ist Ramón, dessen Spur Kara nach Paris verfolgt, tatsächlich in die dortigen Terroranschläge verwickelt? Provokantes Nachfragen in einer Apotheke nach Substanzen, die zur Herstellung von explosiven Waffen verwendet werden könnten, deuten in diese Richtung.
Letztlich bleibt aber alles zu vage, zu unbestimmt, als dass das die Leser*in tatsächlich interessieren würde. Auch wenn das Ende wieder sehr für das Buch einnehmen kann.
Deniz Utlu kann ganz sicher großartig schreiben, poetisch, sich Zeit nehmend, präzise hinschauend. Das hat mich in seinem Debütroman „Die Ungehaltenen“ sehr begeistert und ist auch in „Gegen Morgen“ an vielen Stellen spürbar. Ganz überzeugen konnte mich dieser zweite Roman aber leider nicht.
Beitragsbild von Wady Mee-asa via Pexels
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Deniz Utlu – Gegen Morgen
Suhrkamp September 2019, Gebunden, 269 Seiten, € 22,00