Zu Annie Ernaux muss man zum Glück nicht mehr viel sagen. Die 1940 geborene Autorin zählt in ihrem Heimatland Frankreich schon lange zu den ganz großen Autor*innen, erklärtes Vorbild für mittelalte bis junge Kollegen, von Didier Eribon bis Edouard Louis. Spätestens seit ihrem autobiografischen Werk „Die Jahre“ genießt sie aber auch in Deutschland eine große Popularität, was den Suhrkamp Verlag zum Glück ermutigt hat, auch ältere Werke von ihr zu veröffentlichen. Im Frühjahr 2019 erschien ein schmales Werk über den Vater, „Der Platz“, nun ist auch das Pendant dazu erschienen, das Buch, das Annie Ernaux über ihre verstorbene Mutter geschrieben hat, „Eine Frau“.
Bereits 1993 und 2007 haben deutsche Verlage das Buch unter den etwas aufgehübschten Titeln „Das Leben einer Frau“ und „Gesichter einer Frau“ veröffentlicht, mit bescheidenem Erfolg. Schön, dass der Suhrkamp Verlag die Neuübersetzung von Sonja Finck nun schlicht als „Eine Frau“ herausbringt. Denn wenn etwas Annie Ernauxs Schreibstil charakterisiert, dann die Konzentriertheit, das Schnörkellose.
text über die Mutter
Auch im Text über ihre Mutter, sehr kurz nach deren Tod 1986 verfasst – anders als derjenige über den 1967 bereits verstorbenen Vater, der 1983 erschien -, findet man diese unsentimentale, ja fast nüchterne Erzählweise. Die dennoch die große Verbundenheit und Nähe zur Mutter nie verleugnet.
„Sie ist die einzige Frau, die mir ernsthaft etwas bedeutet hat, und sie war seit zwei Jahren dement. Vielleicht sollte ich warten, bis ihre Krankheit und ihr Tod Teil meiner Vergangenheit geworden sind, so wie andere Ereignisse auch, der Tod meines Vaters und die Trennung von meinem Mann, damit ich Abstand gewinne, der die Analyse der Erinnerung erleichtert. Doch im Moment kann ich ohnehin nichts anderes tun, als über sie zu schreiben.“
Annie Ernaux denkt nicht nur über das Leben ihrer Mutter und ihr Verhältnis zu ihr nach, sondern reflektiert auch stets den Prozess ihres Schreibens darüber. Und das immer völlig unangestrengt und so leise und zurückhaltend wie der gesamte Text verfasst ist. Dabei spielt auch eine Rolle, das er nicht „Meine Mutter“ betitelt ist, sondern „Eine Frau“. Annie Ernaux geht es immer über die eigene Biografie hinaus um das Typische, das Stellvertretende, das dieses Leben auszeichnet. Das ganz spezifische Leben ihrer 1906 geborenen Mutter ist so verlaufen wie das vieler gleichaltriger Frauen unter ähnlichen gesellschaftlichen Bedingungen.
ein leben in der französischen Provinz
In einfachen Verhältnisse in der normannischen Kleinstadt Yvetot als viertes von sechs Kindern aufgewachsen, der Vater war Fuhrmann, die Mutter Weberin, verlässt sie bereits mit zwölf die Schule, um in einer Margarinefabrik, später in einer Seilerei zu arbeiten. 1928 heiratet sie Annies Vater, die beiden bekommen eine Tochter, die 1938 an Diphtherie stirbt. 1940 kommt dann Annie auf die Welt. Dieses Kind soll es einmal besser haben. Die Mutter legt alle Hoffnungen in ihre Tochter, packt all ihren Willen zum sozialen Aufstieg, den sie nach ihren Kräften schon geleistet hat – sie hat mit ihrem Mann einen kleinen Lebensmittelladen mit angegliederter Gastwirtschaft eröffnet, ist keine Arbeiterin mehr -, in die Ausbildung ihrer Tochter. Und diese schafft es. Wir kennen ihren weiteren Weg aus den vorangegangenen Büchern: Lycée und Studium in Rouen und Bordeaux, Aufenthalt in London, Heirat in eine gutbürgerliche Familie, Lehrerin und Autorin.
Annie ist der soziale Aufstieg durch Bildung geglückt. Sie ist ihrem Milieu der Kargheit, des Schweigens, der kulturellen Ignoranz entkommen. Und hat diesen Aufstieg ähnlich wie ihre Kollegen Eribon und Louis zwar immer auch als Befreiung, aber gleichzeitig auch als Verrat an der eigenen Herkunft und an der eigenen Klasse empfunden, einem Begriff, der in Frankreich ungleich wichtiger zu sein scheint als anderswo.
scham und reue
Immer schwingt auch Scham als Gefühl mit, wenn es um ihr Elternhaus und besonders die Mutter geht. Dabei war diese immer bestrebt, sich Wissen und Kenntnisse anzueignen, anders als der Vater, der seinen „Platz“ in der Gesellschaft akzeptierte.
„Ich fand, meine Mutter nahm zu viel Raum ein. Ich sah weg, wenn sie sich eine Flasche zum Entkorken zwischen die Beine klemmte. Ich schämte mich für ihren barschen Ton und ihr forsches Auftreten, umso mehr, als ich ahnte, wie ähnlich ich ihr war. Ich warf ihr vor, so zu sein, wie ich, die ich dabei war, in ein anderes Milieu zu wechseln, nicht mehr sein wollte.“
Die eigene Mutter als Untersuchungsgegenstand – das fordert eine gewisse Distanz. Ernaux nähert sich langsam, tastend, zögernd.
„Mein Vorhaben ist literarischer Art, denn es geht darum, nach einer Wahrheit über meine Mutter zu suchen, die nur durch Worte gefunden werden kann.“
Sie weiß selbst um die Grenzen dieser „objektiven“ Beobachtung, denn natürlich schwingen da unendlich viele, oft auch widersprüchliche Gefühle mit.
Nach dem Tod des Vaters folgt die Mutter der kleinen Familie nach Annecy in die französischen Alpen, kümmert sich um die Enkelkinder, fühlt sich aber immer ein wenig fremd im „Intellektuellen“haushalt. Im Alter, die Demenz deutet sich bereits an, nimmt Annie Ernaux sie zu sich in ein Pflegeheim nach Pontoise, unweit von Paris, wo sie 1986 stirbt.
ein requiem
Der Text ist bei aller angestrebten Nüchternheit voller Nachdenklichkeit, voll von Mitgefühl und Zärtlichkeit für die Mutter, zu der Annie zeitlebens kein unbelastetes Verhältnis hatte. Nun erfasst sie aber eine bodenlose Trauer, ein Gefühl unendlichen Verlusts.
„Dieses Wissen, über Jahrhunderte von Müttern an ihre Töchter weitergegeben, endet mit mir, ich bin nur noch seine Archivarin.“
Noch mehr als das berührende Buch über ihren Vater, ist „Eine Frau“ ein großes Requiem, das Annie Ernaux ihrer Mutter widmet – ein ganz wundervolles Buch!
„Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.“
Rezension zu Annie Ernaux – Erinnerung eines Mädchens
Eine weitere Rezension findet ihr auf dem NachtundTag-Blog
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Annie Ernaux – Eine Frau
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Bibliothek Suhrkamp 1512 Oktober 2019, Gebunden, 88 Seiten, 18,00 €