Er zählt in Norwegen zu den wichtigsten Autoren und ist vielfach preisgekrönt. Für mich gehört Lars Saabye Christensen mit seinem Roman „Die Spuren der Stadt“ zu den Entdeckungen der letztjährigen Frankfurter Buchmesse. „Wer Lars Saabye Christensen liest, will nie mehr aufhören damit“ steht als Teaser auf dem Cover. Und da ist tatsächlich was dran.
Man sollte allerdings das langsame, nostalgische Erzählen schätzen und keine ungeheure Begebenheiten oder fesselnde Spannungsbögen fordern. Lars Saabye Christensen erzählt aus dem Leben ganz „normaler“ Leute mit ihren kleinen und großen Sorgen und Tragödien, und das mit einer ganz eigenen, besonderen Sprache, mit viel Wärme und Sorgfalt.
„Wehmut ist das langsamste aller Gefühle.“
heißt es einmal. Und der Ton, der das Buch durchzieht, ist einer der Wehmut. Das Leben, das beschrieben wird, gibt es so nicht mehr. Wehmut, die vielleicht auch der Autor empfunden haben mag, als er nach dem Tod seiner Mutter die Sitzungsprotokolle des Ortsvereins Fagerborg des Norwegischen Roten Kreuzes fand, die diese als Schriftführerin von 1950 bis 1973 verfasste und sorgsam aufbewahrte. Sie fanden (vielleicht etwas verändert) Eingang in diesen Roman und bilden jeweils das Ende eines jeden Kapitels. Ein formales Element, das zunächst vielleicht ein wenig irritieren mag – geben die Protokolle doch nicht besonders viel her, es wird über Spendeneinnahmen berichtet, über die Verpflegung von „Judenkindern aus Deutschland“ auf der Durchreise, auf geplante Basare und Seniorenausflüge hingewiesen, Budgetpläne entworfen. Und doch geben diese Einträge nicht nur einen Blick auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Nachkriegszeit, sondern auch auf das spezielle soziale Gefüge in Fagerborg.
oslo 1948, kirkeveien 127
„Die Spuren der Stadt“ ist der erste Teil einer Trilogie, die einen Jungen, Jesper Kristoffersen, über lange Jahre begleiten wird. Zu Beginn ist Jesper sechs Jahre alt, wir schreiben das Jahr 1948. Familie Kristoffersen lebt in einem noch ein wenig ländlich geprägten Stadtteil Oslos. Die Wohnanlage Jessenløkken am Kirkeveien ist die Heimat der dreiköpfigen Familie, zu der später noch die kleine Stine hinzukommt. Vater Ewald ist in der Werbebranche tätig, gerade mit der Planung der anstehenden 900 Jahr-Feier Oslos beschäftigt, Mutter May arbeitet ehrenamtlich beim Roten Kreuz. Die Nachbarin, die Witwe Margarethe Vik passt dann schon mal auf die Kinder auf. Der Frognerpark und der Straßenbahnkreuzungspunkt Majorstua begrenzen die kleine Welt Jespers.
Jesper gilt als unruhig und anstrengend, heute würde man ihn sensibel und begabt nennen. Er freundet sich mit dem Schlachtersohn Jostein an, der seit einem Unfall hörgeschädigt ist und zu Jespers großer Trauer bald nicht mehr mit ihm die Schule besuchen darf, sondern auf eine Sonderschule gehen muss. Ein großes Glück ist für Jesper das Klavier und die Übungsstunden beim italienischen Barpianisten Enzo Zanetti.
schwere zeiten
Die Zeiten sind schwer. Der Krieg und die deutsche Besatzung hängen nach. Man merkt das manchmal nur an nebenbei erwähnten Kleinigkeiten, den durchreisenden jüdischen Kindern auf „Erholung“, den Bittgesuchen, die beim Roten Kreuz eingehen, der Kargheit der Verhältnisse. Die Stimmung ist aber verhalten optimistisch, man klagt nicht.
Es passiert gar nicht viel im Kirkeveien 127 – und doch ist es das ganze Leben. Jesper kommt in die Schule, findet einen Freund, bekommt eine kleine Schwester, der Vater erkrankt schwer. Nachbarin Vik lernt einen neuen Mann kennen, heiratet und zieht fort, Familie Kristoffersen bekommt ein Telefon. Die Arbeit des Roten Kreuzes geht weiter.
Lars Saabye Christensen schafft mit „Die Spuren der Stadt“ ein ungeheuer atmosphärisches Bild, melancholisch, ein bisschen wehmütig, aber auch voll leisem Humor. Er begleitet seine Figuren sehr warmherzig und sie wuchsen der Leserin sehr schnell ans Herz, ohne dass das Erzählen jemals sentimental wurde. Für ungeduldige Leser*innen ist dieses Erzählen vielleicht nicht das Richtige. Für alle anderen gilt vielleicht wie für mich: „Wer Lars Saabye Christensen liest, will nie mehr aufhören damit.“
In Norwegen sind alle drei Teile der Trilogie bereits erschienen. Ich hoffe, wir müssen hier in Deutschland nicht zu lange auf Teil 2 und 3 warten.
Beitragsbild: Oslo 1948 National Library of Norway [Public domain]
Weitere Neuerscheinungen aus Norwegen könnt ihr in meinem Norwegen Spezial entdecken Teil 1 und Teil 2
_____________________________________________________
*Werbung*
eine sehr schöne Besprechung über ein wundervolles, zutiefst menschliches Buch. Schön, dass Du es auch vorstellst. Viele Grüße
Ich kannte Christensen ja gar nicht. Hab ich ein wenig dir zu verdanken. ?