Katerina Poladjan – Hier sind Löwen

Das Szenario ist nicht neu und bereits unzählige Male Ausgangspunkt und/oder Sujet von Romanen gewesen: eine nicht mehr ganz junge Frau, so um die Dreißig (wahlweise auch ein junger Mann), ist im Leben noch nicht so ganz angekommen, beruflich leicht prekär, aber gut ausgebildet, Beziehungsstatus noch nicht wirklich geklärt, genauso offen wie die Zukunftspläne, kommt an einen Punkt, der mittlerweile sogar einen Namen besitzt, die „Quarterlife-Crisis. Oft stecken irgendwelche familiären, gern verdrängten und nicht gleich offensichtlichen Probleme hinter dem Dilemma. Und oft dient eine Reise zu den familiären Wurzeln als Anstoß, sich darüber Klarheit zu verschaffen. Das ist auch bei der Protagonistin von Katerina Poladjan in ihrem 2019 für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Hier sind Löwen“ so.

Das Besondere dieses Buchs liegt in der Familiengeschichte und in der Profession der Protagonistin.

der völkermord an den Armeniern 1915

Helen Mazavian hat wie die 1971 in Moskau geborene Autorin armenische Wurzeln. Aufgewachsen ist sie bei ihrer etwas exzentrischen Mutter Sara. Diese ist Künstlerin und fertigt unter anderem Assemblagen an, deren Motive an die Geschichte und Verfolgung der Armenier im 20. Jahrhundert erinnern. Der Völkermord an den Armeniern forderte 1915/16 schätzungsweise bis zu 1,5 Millionen Todesopfer. Die Zahlen gehen sehr weit auseinander, die Türkei leugnet ihre Schuld bis heute. Viel geredet hat die Mutter andererseits nicht über die Familie, nur dass die Großmutter aus der Gegend um Kars stammte und zu den Verfolgten und Vertriebenen gehörte. Als Helen beruflich nach Jerewan reist, gibt sie ihr ein altes Foto mit, darauf dreizehn Personen und der Vermerk „Artaschat 1957“. Familie.

Helen ist Buchrestauratorin. Ein universitäres Austauschprogramm führt sie, die einst in Istanbul orientalische Buchkunst studiert hat an ein staatliches Archiv in Armenien, um die armenische Bindetechnik zu lernen und bei der Restauration wertvoller Schriften mitzuwirken. Ihr erstes Projekt zieht sie gleich tief in die armenische Geschichte hinein. Es ist eine Familienbibel aus dem Jahr 1710, der neuere Eintragungen, vermutlich aus der Zeit der Vertreibungen, beigefügt sind. Eintragungen eines Mädchens namens Anahid über ihren kleinen Bruder Hrant. Aber schon diese Schlussfolgerung Helens ist spekulativ.

Jerewan mit Ararat
Jerewan mit Ararat via piqsels
anahid und hrant

Im Laufe ihrer Arbeit ist Helen vom Schicksal von Anahid und Hrant fasziniert, obwohl sie nahezu nichts darüber weiß. Parallel zu der eigentlichen Handlung mit ihren Rückgriffen und Erinnerungen an Helens Kindheit und ihr Leben mit Danil in Berlin schieben sich nun Episoden aus dem Leben der beiden Kinder. Dabei bleibt völlig offen, ob diese Schilderungen von der Tötung und Verschleppung der Eltern und Geschwister und ihrer Flucht aus Ordu am Schwarzen Meer in die Berge historische Einsprengsel einer auktorialen Erzählinstanz oder aber von Helen Erträumtes, Imaginiertes sind. Die Abschnitte haben etwas sehr märchenhaftes, entrücktes.

Biografische Bezüge darf man aber vermuten, da Katerina Poladjans Großvater aus Armenien ebenfalls den Namen Hrant trug. Außerdem ist ihr Vater ein Künstler, der ähnliche Assemblagen wie Sara im Roman anfertigt.

Helens nicht sehr ambitionierte Suche nach den Verwandten ist der für mich schönste Teil des Romans. Er führt von Jerewan in die Türkei nach Ordu am Schwarzen Meer und von dort nach Kars. Nebenbei verfolgt sie auch die Spuren der Familienbibel. Das ist atmosphärisch dicht, lebendig und teilweise sehr amüsant beschrieben und bietet einen Blick in ein literarisch noch recht unbekanntes Land.

Daneben erschließt Katerina Poladjan den Lesern von „Hier sind Löwen“ aber auch einen genau recherchierten Blick in die Werkstatt einer Buchrestauratorin. Das ist manchmal sehr detailliert, aber nie zu umfangreich gehalten.

zeit für einen Neuanfang?

Der dritte Aspekt, den das Buch öffnet, ist der der Identitäts- und Standortsuche der Ich-Erzählerin. In Jerewan stürzt sie sich sehr bald in eine Affäre mit dem Sohn ihrer Chefin Evelina. Levon ist Jazz-Musiker und Soldat und hat eine kleine Tochter. Helen stellt ihre Beziehung mit Danil immer mehr in Frage, hält sich aber auch Levon gegenüber alles offen. Was sie dabei umtreibt, erschließt sich der Leser*in nicht wirklich. Dies ist der reichlich spröden, etwas unnahbaren Art Helens geschuldet, die, obwohl sie Ich-Erzählerin ist, immer etwas distanziert bleibt.

Das ist aber wohl auch Teil des Erzählkonzepts der Autorin. „Hier sind Löwen“ nennt Katerina Poladjan ihren Roman, nach den Kennzeichnungen noch unbekannter, unerforschter Gebiete auf antiken Weltkarten. „Hic sunt leones!“ Und voller weißer Flecken bleibt auch der Roman. Was wird aus Helen und Danil? Und aus den Recherchen zu Helens Familie und zur alten Handschrift? Was aus den Kindern Anahid und Hrant? Diese Leerstellen bleiben, so wie auch manche Abschnitte in alten Büchern nicht rekonstruiert werden können. Auch Helen lässt die weißen Flecken unerforscht. Kurz bevor sie die ersehnte armenische Bindekunst selbst erlernen soll, reist sie ab.

 

Weitere Besprechungen des Buchs bei Letteratura und Kulturgeschwätz

 

Beitragsbild: Chatschkar, Armenischer Kreuzstein via pexels

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Katerina Poladjan - Hier sind Löwen.

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Katerina Poladjan – Hier sind Löwen
S. FISCHER Juni 2019, 288 Seiten, gebunden, € 22,00

2 Gedanken zu „Katerina Poladjan – Hier sind Löwen

  1. Dieser Roman ist stilistisch brilliant, formal komplex, und dennoch zugänglich, dabei formal ganz dem gegenstand verpflichtet, ohne jede Schreibschulenprätention. Man muss wahrscheinlich erstmal daran arbeiten, dass er nicht in vergessenheit gerät, aber dann könnte er von den Buchpreistiteln der einzige sein, den man auch in 10, 20, 30 jahren noch aufschlägt (https://soerenheim.wordpress.com/2019/09/16/das-buch-das-den-preis-verdienen-wuerde-oder-besser-dass-man-es-nicht-vergisst-hier-sind-loewen-von-katerina-poladjan/).

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