2019 war ein Erfolgsjahr für die Debütantin Miku Sophie Kühmel: für ihren Roman „Kintsugi“ erhielt sie den Förderpreis der Jürgen Ponto Stiftung, den Aspekte Literaturpreis und einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis. Was machte das Buch trotz recht verhaltener Kritiken im Literaturfeuilleton so attraktiv für die Juroren?
Die Konstellation der Geschichte ist eine klassische: vier Menschen, zwei Paare, begegnen sich an einem abgegrenzten Ort, ein Kammerspiel. Hier sind es zwei Tage im Haus am See. Das queere Paar Max und Reik feiert sein zwanzigjähriges Jubiläum und dazu haben sie Tonio und seine Tochter Pega eingeladen mit ihnen zu feiern. Man isst, trinkt, plaudert, geht spazieren. Sehr viel mehr passiert nicht und doch passiert natürlich eine ganze Menge und, ich verrate sicher nicht zu viel, am Ende trennen sich Max und Reik zur großen Bestürzung von Tonio und Pega.
Max und Reik und Tonio und Pega
Einst hatte Tonio mit Reik eine Affäre, bevor dieser Max kennenlernte und Tonio mit Bettina ein Kind zeugte und diese auch überzeugen konnte, es auf die Welt zu bringen. Ab da war Tonio alleinerziehender Vater. Oder nicht ganz, auch seine beiden Freunde agierten zumindest als Teilzeitväter. Nun ist Pega um die Zwanzig und die Männer kommen in das von Heinz Rudolf Kunze einst so schön betitelte „glatzenwunde Alter“.
Das Ganze stellt eine (ach so) moderne und zeitgemäße Version der Wahlverwandtschaften-Konstellation dar, inklusive gehörig durcheinander gebrachter Gefühle. Das macht wahrscheinlich auch einen Teil des Reizes von Kintsugi für seine Leser*innen aus. Bloß keine langweilige, normale, spießige Familie! Und so ist Tonio nicht nur alleinerziehender, bisexueller Vater, sondern auch Barpianist. Max ist ein außergewöhnlich gut aussehender Professor für Archäologie und Reik ein charismatischer, international erfolgreicher bildender Künstler. Natürlich ist man sexuell extrem freizügig und lebt das ausgiebig aus. Geld spielt sowieso keine Rolle. Alles, von Kleidung und Verpflegung bis Einrichtung ist von erlesenem Geschmack. Und so werden auch gleich auf den ersten Seiten die Dieter Rams-Regale und das Van Duysen Sideboard nebst wertvoller antiker Teeschale platziert. Personen- und Milieucharakterisierung durch Marken ist etwas, was ich so gar nicht mag. Zum Glück wird dieses Stilmittel im Verlauf des Romans nicht mehr ganz so häufig verwendet.
kintsugi
Aber das Milieu, aus dem die vier Berliner ins Landhaus in der Uckermark reisen, wird damit deutlich. Vielleicht identifizieren sich viele Leser*innen damit gerne. Aber es hat etwas furchtbar Artifizielles, genauso wie die Symbolik des Kintsugi. Kintsugi ist die japanische Handwerkskunst, zu Bruch gegangene Keramik oder Porzellanscherben mithilfe von mit Pulvergold versetztem Chinalack zu kitten. Die Brüche bleiben sichtbar, „perfection in the imperfection“, ein japanisches ästhetisches Prinzip, Wabi-Sabi, und so sind auch zwei der vier Kapitel benannt. Sie gehören den Ich-Erzählern Max und Reik. Auch die Tonio und Pega zudachten Kapitel und die einrahmenden, auktorial erzählten Teile tragen Begriffe aus der japanischen Ästhetiklehre. Dazwischen finden sich noch kurze szenische Gespräche mit Regieanweisungen.
Miku Sophie Kühmel hat sich für ihren Debütroman „Kintsugi“ formal und inhaltlich einiges vorgenommen. Das führt durch seine starke Symbolik oft zu einer Überfrachtung. Zu viel Kunsthandwerk und zu viel klischeebeladenes Psychologisieren. Die Personen tragen ihre Deformationen natürlich aus ihrer Kindheit davon. Überall fehlten die Väter und haben die Mütter allerlei falsch gemacht (von der sich selbstverwirklichenden Künstler-WG-Mutter bis zur Alkoholikerin). Figuren vom Reißbrett.
sprachlich souverän
Aber es gibt auch Positives über den Roman zu sagen. Miku Sophie Kühmel ist ganz sicher ein großes Talent. Sie versteht es, zu schreiben. Ihre vier Ich-Erzählstimmen sind gelungen, die sich stets leicht verschiebenden Perspektiven ergänzen sich interessant. Die Sprache ist prägnant und eher kühl, auf literarisch hohem Niveau. Insgesamt sehr souverän.
Dennoch: inhaltlich kommt da einfach zu wenig. Und formal wurde zu viel gewollt. Kintsugi ist eben auch ein Debütroman und als solcher Miku Sophie Kühmel durchaus gelungen. Da er aber auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, muss man die Frage stellen dürfen, ob er tatsächlich zu den fünf besten deutschsprachigen Romanen des Jahres 2019 gehört. Ich würde sagen: Nein.
Positivere Stimmen zum Buch findet ihr bei Letteratura, der Kunstschreiberin und noch eine verhaltene bei Lesen in vollen Zügen
Beitragsbild: Kintsugi by Haragayato [CC BY-SA] via Wikimedia Commons
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Miku Sophie Kühmel – Kintsugi
S. FISCHER August 2019, 304 Seiten, gebunden, € 21,00
Ah… Sehr gut beobachtet! Ich konnte meinen Finger nicht so wirklich darauf legen, was mich an den Protagonisten gestört hat. Zu einem Kollegen meinte ich dann auch nur, sie wären mir trotz all der Unangepasstheit zu klischeehaft, doch so wirklich begründen konnte ich es nicht.
Aber du hast natürlich vollkommen recht, letztendlich werden all die eigenen Probleme an der verkorksten Kindheit festgemacht. Das kennt man ja schon.
Liebe Grüße,
Andrea
Liebe Grüße zurück! Ja, manchmal kann man es nicht so genau benennen, was stört. Hier wusste ich es ziemlich gleich von Anfang an.
Hallo Petra,
danke für die so anders gewichtete Rezension. Was die vielen Klischees betrifft stimme ich dir natürlich zu. Man sollte Personen nicht an Marken oder anderen Äußerlichkeiten festmachen. Ich glaube jedoch, dass Miku Sophie Kühmel mit diesen Klischees die scheinbar so ideale Beziehung von Max und Reik charakterisiert. Es ist alles perfekt und glatt, doch dann entstehen die Risse und diese perfekte Fassade bröckelt…
Liebe Grüße
Gabi
Danke für dein Feedback, liebe Gabriele. Sicher war das so von der Autorin gedacht, und gewollt wie du sagst. Mir war das aber alles zu offensichtlich, zu konstruiert. Kein schlechter Roman, aber beim Buchpreis für mein Gefühl zu weit nach oben gerutscht. Viele Grüße!