Das neue Blog-Jahr beginnt mit einer ordentlichen Verspätung beim Lesemonat, meiner Lektüre Januar 2020 . Es haben sich jede Menge Rezensionen aus der Herbst/Winter-Produktion angesammelt, die erst einmal bearbeitet und veröffentlicht werden wollten. Deshalb erscheint also die Zusammenfassung meiner Januarlektüre diesmal zur Monatsmitte.
Lediglich ein Buch konnte mich im Januar nicht wirklich überzeugen. Alle anderen boten mir eine sehr beglückende Lektüre und sind uneingeschränkt empfehlenswert. Elf waren es insgesamt, eines davon wird erst im März erscheinen, Sarah Jägers Nach vorn, nach Süden, weswegen ich davon noch nicht so viel verraten möchte. Es erwartet ein (nicht nur) jugendliches Publikum ein rasanter Roadtrip durchs nordrhein-westfälische und hessische Hinterland (fast direkt auch hier bei uns vorbei), vom Hinterhof des Penny-Markts in Essen auf ein Open-Air-Festival nach Fulda. Viel Lesespaß mit einigen nachdenklichen Momenten ist garantiert!
Überall wird der gerade auf Deutsch erschienene Roman Herbst von Ali Smith als der „erste Brexit-Roman“ gefeiert. Und tatsächlich erzählt der 2016 verfasste Roman vom neuen, raueren Klima im United Kingdom. Aber das ist nur ein Aspekt dieses komplexen und doch so zugänglichen Romans.
Am Krankenhausbett eines 101 Jahre alten Mannes, Daniel Gluck, sitzt viele Stunden eine junge Frau, liest, liest ihm vor, spricht mit dem in einem tiefen, langen Schlaf Gefangenen, nimmt Abschied. Außerdem erzählt Ali Smith noch von der britischen Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty und ihrem traurigen Schicksal und liefert zahlreiche Referenzen auf Werke der Kunst und Literatur. Gleichzeitig thematisiert sie über eines der Werke Botys den Skandal um Christine Keeler. Reichlich Stoff für einen nicht allzu umfangreichen Roman. Es erstaunt und zeugt von großer Könnerschaft, dass sich das Ganze so problemlos und mit Genuss lesen lässt. Letztlich entscheidet die Leserin, welchen Fährten sie folgen mag. Brexit-Roman oder Meta-Erzählung? Politisches Statement gegen das Errichten neuer Grenzen und für die Vielgestaltigkeit des Lebens oder zarte, poetische Erzählung über das Abschiednehmen von einem geliebten Menschen? Oder eben alles zusammen.
Geplant und angelegt hat Ali Smith „Herbst“ als den ersten Text eines Jahreszeiten-Quartetts.
Katerina Poladjan stand im vergangenen Jahr mit Hier sind Löwen auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Auf die Shortlist hat sie es leider nicht geschafft, dabei hätte es der Roman durchaus verdient gehabt (aber das ging ja nicht nur diesem Buch so). Mich hat die Geschichte einer deutschen Buchrestauratorin mit armenisch-russischen Wurzeln (wie die Autorin) auf der Suche nach ihrem familiären Hintergrund und nach ihren Lebenszielen weitgehend überzeugt. Inklusive märchenhaften Episoden zweier armenischer Kinder während der großen Verfolgungen 1915. Der Roman spielt in Jerewan und der Türkei.
Der Leopard ist ein italienischer Klassiker, 1963 von Luchino Visconti legendär mit Burt Lancaster, Claudia Cardinale und Alain Delon verfilmt. Giuseppe Tomasi di Lampedusa erzählt von einer sizilianischen Adelsfamilie, vom Untergang ihrer feudalen Lebensweise durch das Risorgimento, von der anbrechenden neuen Zeit und vom Leben im italienischen Süden.
Ich hatte diesen Klassiker tatsächlich bisher nicht gelesen – welch ein Versäumnis! Das Buch ist nicht nur großartig erzählt, sondern funkelt auch vor subtiler Ironie. Ganz großes Lesevergnügen! Großartig neu übersetzt von Burkhart Kroeber.
Drei Kilometer war mein Favorit bei der Juryentscheidung vom Literaturpreis für Blogger Das Debüt.
Zunächst interessierte mich das Setting: die letzten Tagen des Ceaușescu-Regimes im rumäniendeutschen Banat. Eine junge Frau im Konflikt zwischen zwei Männern, zwischen Gebundenheit zur Familie und dem Wunsch nach Freiheit, zwischen Heimat und dem Aufbruch ins Neue und Unbekannte. Nur drei Kilometer trennen sie von der Grenze.
Diesen Konflikt so überzeugend wie berührend und lakonisch darzustellen, gelingt Nadine Schneider perfekt. Ihre Sprache ist reduziert und klar und dennoch poetisch.
Norbert Scheuers Roman ist der letzte Titel, den ich in einer kleinen Buchpreis-Nachholrunde gelesen habe. Und er hat es tatsächlich geschafft, meinen bisherigen Favoriten und letztendlich auch Preisträger Saša Staničić vom Thron zu stürzen. Winterbienen ist ein ganz wundervoller Roman, auch, aber nicht vorrangig über Bienen.
Eifel 1944. Egidius Arimond ist Epileptiker, von den Nazis aus dem Dienst entfernter Lateinlehrer, Imker, Hobbyhistoriker, Buchliebhaber und Fluchthelfer. Wie sich die Schlinge des Krieges auch um Egidius immer weiter zuzieht ist beklemmend, spannend und äußerst lohnend zu lesen.
Die Spuren der Stadt ist der erste Teil einer Trilogie über das Leben in Oslo und beginnt in der Nachkriegszeit. Jesper ist da sieben und kommt gerade in die Schule. Er lebt mit seinen Eltern und einer kleinen Schwester in einer Wohnung im Kirkeveien im Jessenløkken-Viertel. Ein Leben wie viele andere, von Lars Saabye Christensen aber so besonders und warmherzig erzählt, dass ich mich schon auf die Folgebände freue und hoffe, sie werden bald auch auf Deutsch erscheinen.
Die Mischung aus möglichst distanzierter Beobachtung plus Einordnung in soziologische und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und der zärtlichen, empathischen Sicht macht für mich die Größe der autobiografischen Texte Annie Ernauxs aus. Ob über sich selbst in „Die Jahre“ oder „Erinnerung eines Mädchen“, ihren Vater in „Der Platz“ oder aber im jetzt auf Deutsch vorliegenden Mutterbuch Eine Frau – großartige Literatur.
Lebenswerk ist ein Buch über das existentielle Erlebnis, Mutter zu werden – radikal und liebevoll, bitter und humorvoll, oft zugespitzt und absolut ehrlich. Das Rachel Cusk eine außerordentlich gute Schriftstellerin ist, die wunderbar mit Sprache umzugehen weiß, hat sich mit ihrer Trilogie – Outline, Tansit, Kudos – herumgesprochen. Nun erscheint auch dieses kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter verfasste autobiografische Werk, das ähnlich wie Cusks späteres Buch über ihre Scheidung, beim Erscheinen 2001 wütende Proteste hervorgerufen hatte, auf Deutsch.
Interessanterweise habe ich zum Buch nicht eine männliche Kritikerstimme gefunden. Sollte Rachel Cusk tatsächlich Recht haben? Interessiert diese existentielle Erfahrung, die hier so gekonnt schriftstellerisch umgesetzt wurde, tatsächlich nur andere (potentielle) Mütter? Das wäre äußerst bedauernswert und würde allzu gut in das Schema des ignoranten männlichen Lesers und Kritikers passen, für den explizit weibliche Erfahrungen einfach nur „Frauengedöns“ ist.
Und was für eine Rolle spielt dabei die vom Verlag gewählte Coverfarbe (alt)rosa ( die mir sehr gefällt, aber ich bin ja auch eine Frau
Auch wenn Das Licht in deinen Augen quasi die Fortsetzung von „Wege die sich kreuzen“ ist, kann man wunderbar auch hiermit in die finnische Familiengeschichte einsteigen. Allerdings wird man neugierig auf den Vorgänger gemacht gemacht.
Hier konzentriert sich Tommi Kinnunen auf die Lebensgeschichte der blinden Helena und ihres Neffen Tuomas und reicht von den 1940erJahren bis hinein in die Neunziger. Schauplätze sind das nordostfinnische Kuusamo, Helsinki und Turku. Leseempfehlung!
Ein weiteres Buch, das im Rennen um den Deutschen Buchpreis stand, diesmal sogar auf der Shortlist mit fünf weiteren Büchern. Eine beachtliche Leistung für einen Debütroman.
Mich hat Kintsugi von Miku Sophie Kühmel leider nicht recht begeistern können. Die Geschichte zweier (nicht konventioneller) Paare in Wahlverwandtschaften-Manier war mir in allem zu gewollt. Die Autorin ist sicher ein Talent, das Buch aber leider nicht meins.
.
Sarah Jäger – Nach vorn, nach Süden