Im Zentrum Moskaus, nicht weit vom Roten Platz und in direkter Nachbarschaft zum Bolschoi-Theater steht ein prächtiger Jugendstilbau, das 1905 eröffnete Luxushotel Metropol. 1917 bereits wurde es von den in der Revolution siegreichen Bolschewisten übernommen. Es diente seitdem sowohl der Unterbringung hochrangiger ausländischer Gäste als auch als Wohnort sowohl von Funktionären als auch auf ihren Prozess wartenden politischer Gefangenen. In Sichtweite befindet sich das berüchtigte Gefängnis des russischen Geheimdienstes Lubjanka. Im Roman „Metropol“ von Eugen Ruge bildet es den zentralen Handlungsort.
In seinem 2011 erschienenen großartigen Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, in dem Eugen Ruge über vier Generationen einer ostdeutschen Familie schrieb, blieb eine der Geschichten weitgehend im Dunkeln, zumindest was die fernere Vergangenheit betraf. Zwar traf sich die Familie anlässlich des 90. Geburtstags von (Stief)Großvater Wilhelm im Haus der Großeltern und es wurde auch deren abenteuerliche Vergangenheit erwähnt, aber Verbindungen in die stalinistische Sowjetunion wurden allerhöchstens angedeutet. Für den Erzähler, Enkel und Alter-Ego von Eugen Ruge, war Charlotte immer die „mexikanische Großmutter“. Dorthin emigrierten die Kommunisten Charlotte und Wilhelm 1938, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen.
der große terror
Dass dieser Emigration ein längerer Aufenthalt in Moskau voranging und die beiden ebenso wie Charlottes Söhne aus erster Ehe in das Grauen der stalinistischen Säuberungen 1936-1938 gerieten, in die Zeit der Schauprozesse, in denen Hunderttausende von Menschen verurteilt und anschließend ermordet wurden, darunter der Großteil der alten Führung der kommunistischen Partei, des militärischen Kommandostabes, der wirtschaftlichen Elite, der Ministerien und der Geheimpolizei, davon erzählt nun das neue Buch, das damit eine Art Vorgeschichte von „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ darstellt. Dem „Großen Terror“ Stalins in den Jahren 1937/38 fielen schätzungsweise bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Dazu kamen Millionen, die in Gulags verbannt wurden und dort teilweise ums Leben kamen.
Eugen Ruge lässt „Metropol“ nach einem kurzen Prolog, in dem er über seine Recherchen zum Buch berichtet,
„Ich sehe was, was du nicht siehst. Das Spiel hast du mir beigebracht. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist: deine Kaderakte, Charlotte.“
auf einem Schwarzmeerdampfer Richtung Jalta beginnen. Charlotte und Wilhelm sind auf Urlaubsreise. Die beiden Kommunisten sind aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die Sowjetunion geflüchtet und unterstützen nun dort die Komintern, die Kommunistische Internationale, deren Aufgabe darin bestand, die kommunistischen Parteien weltweit zu vernetzen, um irgendwann die von Lenin angestrebte Weltrevolution zu vollziehen. Genauer gesagt arbeitet Wilhelm für die OMS (Otdel meschdunarodnych swjasei), den Geheimdienst der Komintern.
im metropol
Hier auf ihrer Reise erfahren Charlotte und Wilhelm, dass ein Bekannter von ihnen, Alexander Emel, verhaftet und als „Volksfeind“ angeklagt worden ist. Wie gefährlich allein die Bekanntschaft mit einem „Volksfeind“ werden kann, wissen sie. Die Zeit des Schreckens hat im August 1936 bereits begonnen, auch wenn die großen Säuberungen noch in der Zukunft liegen. Und tatsächlich werden die Beiden bald nach ihrer Rückkehr vom Dienst suspendiert und im Hotel Metropol einquartiert. Hier im Zimmer 479 beginnt der für einen Roman recht kurze, für die im Ungewissen und der Angst Lebenden aber quälend lange, Zeitabschnitt von 477 Tagen, über den Eugen Ruge berichtet.
Bis auf wenige Ausflüge nach draußen – kurze Spaziergänge, Einkäufe mit stundenlangem Schlangestehen in der Mangelwirtschaft – konzentrieren sich Leben und Erzählung auf das Innere des Hotel Metropols. Fast täglich kommen neue „Gäste“ an, andere verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Es herrscht unter den einstigen Genossen ein Klima der Paranoia, des Misstrauens, der Denunziation. Kurze Zeit scheint zumindest Charlotte rehabilitiert, darf in einem Verlag arbeiten, Hoffnung kommt auf.
Es ist überhaupt unbegreiflich, wie loyal Charlotte und Wilhelm gegenüber der Kommunistischen Partei und dem Führer Stalin blieben, wie sie sogar die Säuberungen selbst rechtfertigten, obwohl sie selbst betroffen waren und die Lügen dahinter klar erkennen konnten.
Die Bekanntschaft mit Hilde Tal, Ex-Frau von Wilhelm und auch für die OMS tätig, wird Charlotte zum Verhängnis. Als diese verhaftet und am gleichen Tag als „Volksfeindin“ erschossen wird, verliert auch Charlotte erneut ihre Anstellung und das kleine bisschen Sicherheit.
drei erzählstimmen
Bis dahin gehört Hilde Tal neben Charlotte eine der Erzählperspektiven im Buch. Eine dritte geht an Wassili Wassiljewitsch Ulrich, dem Vorsitzenden des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR, unter dessen Verantwortung während der Schauprozesse 1936-38 über 30.000 Menschen zum Tode verurteilt wurden. Auch diese fürchterliche historische Figur zeichnet Eugen Ruge überzeugend ambivalent. Auch ihm sitzt die Angst vor Stalins Zorn im Nacken. Ein wenig satirische Gestaltung kann sich Eugen Ruge bei ihm aber nicht verkneifen.
Mit großer psychologischer Einfühlung geht Eugen Ruge in „Metropol“ ansonsten mit seinen Protagonisten und auch den Nebenfiguren um. Durch die vorwiegend verwendete erlebte Rede kommt er diesen auch im protokollartigen Stil des Erzählten sehr nahe. Welcher Wahnsinn in dieser Zeit in der Sowjetunion tobte, macht er beklemmend deutlich. Wer von den Säuberungen betroffen wurde, wer verschont, das war am Ende Zufall, Schicksal.
Charlotte und Wilhelm erhielten wie wenige andere Mitarbeiter der Komintern eine Ausreiseerlaubnis nach Frankreich. Und von dort gelang ihnen die Emigration nach Mexiko. Auch dort und später, nach dem Krieg, in der DDR, hielten sie an ihrem Glauben an den Kommunismus und sogar an Stalin fest. Davon erzählt, unter anderem, „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. So irrsinnig die Schauprozesse waren, so irrsinnig ist, dass weite Bevölkerungskreise an ihre Notwendigkeit, Richtigkeit und Wahrheit glaubten. Und nicht nur das „einfache Volk“. Die Blindheit auch von Intellektuellen wie Lion Feuchtwanger, der in seinem Buch „Moskau 1937“ den Stalinismus verherrlichte, wurde vielfach diskutiert.
was menschen zu glauben bereit sind
Für Eugen Ruge erzählt der Roman davon, „was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind.“ In Zeiten der Fake News ein durchaus aktuelles Thema. Darüber hinaus erfährt man einiges über ein recht wenig beleuchtetes Kapitel der Geschichte, über das Wirken und Schicksal deutscher (und internationaler) Kommunisten in der Sowjetunion während der Stalinherrschaft.
Eugen Ruge hat sein Buch mit Fotokopien aus der Kaderakte seiner Großmutter Charlotte angereichert. Seine Recherchen im russischen Staatsarchiv hat er in ein packendes Buch verpackt. „Metropol“ ist sicher eines der bedeutendsten Bücher der deutschsprachigen Herbstproduktion. Dass es bisher auf noch keiner Preisliste erschienen ist (auch nicht auf der unlängst veröffentlichten Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse), verwundert mich doch sehr.
Weitere Rezensionen bei Ruth liest, Schreibblogg und Buchsichten
Beitragsbild: Hotel Metropol by Ludvig14 [CC BY-SA] via Wikimedia Commons
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Eugen Ruge – Metropol
Rowohlt Oktober 2019, gebunden, 432 Seiten, 24,00 €
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Dankeschön! Freut mich.