Der Tod eines alten Freundes beschert einen neuen: mit ihrem 2018 mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman „Der Freund“ wurde die US-amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez schnell zum Publikumsliebling. Zu Recht!
Ein Roman? Vielleicht eher nicht. Man kennt das Genre mittlerweile von Autor*innen wie Rachel Cusk oder auch der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk: ein Schweifen zwischen Autofiktion, Memoir und Essay. Viel hat auch die Ich-Erzählerin von Sigrid Nunez in „Der Freund“ mit der Autorin gemeinsam – das Alter, den Wohnort New York, den Beruf der Schriftstellerin, die auch an der Universität lehrt, die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit.
„Es ist nicht so, dass man hoffen kann, sich schreibend über seine Trauer hinwegzutrösten.“
„Die Frage, die jeder Roman zu beantworten sucht, lautet: Ist das Leben lebenswert?“
Diese beiden Motti von Natalia Ginzburg („Mein Beruf“) und Nicholson Baker („The art of fiction No. 212“) stellt Sigrid Nunez ihrem Buch voran.
Nein, Trost kann der Ich-Erzählerin das Schreiben nicht geben, und doch ist es für sie der einzige Weg. Da wäre sie sich einig mit dem Verstorbenen, dessen Tod sie betrauert. Einst war der britisch-jüdische Autor ihr Schreiblehrer, ganz kurz ihr Geliebter und für den Rest ihres Lebens der Freund, an den sie sich im Buch immer wieder mit einem liebevollen „Du“ wendet. Nun hat er sich selbst das Leben genommen.
Was ihn außer seinem Intellekt und seiner Liebe zur Literatur so anziehend machte, bleibt der Leserin weitgehend verborgen. Drei Ehefrauen, unzählige Affären, ein universitärer Machismo, der gar nicht versteht, wenn Studentinnen sich nicht mit „meine Liebe“ anreden lassen wollen – der „alte, weiße Mann“ und #metoo lassen grüßen. Für die Ich-Erzählerin aber war er der Freund ihres Lebens. Diese Ambivalenz lässt Sigrid Nunez so stehen.
Sie erzählt zu Beginn von den 1980er Jahren in Kalifornien, in denen verblüffend viele Frauen mit den gleichen Beschwerden einen Arzt aufsuchten: sie konnten nicht mehr richtig sehen, bis zur Blindheit. Sie alle kamen aus Kambodscha, waren Opfer der Gräuel der Roten Khmer und ihre Augen waren organisch völlig gesund. Die Trauer, die Verzweiflung haben ihnen das Augenlicht genommen. Das war das Letzte worüber die Erzählerin mit dem verstorbenen Freund sprach. Und ein wenig scheint sie sich mit dieser Trauer und Verzweiflung nun zu identifizieren.
Hinein platzt der Anruf von Ehefrau Nummer 3: Der Verstorbene hätte sich gewünscht, dass sich die Erzählerin seines Hundes annimmt, bei ihr selbst könne er nicht bleiben. Das Problem: die Wohnung der Schriftstellerin in New York misst gerade mal 45 qm, in denen zudem keine Hunde erlaubt sind. Und Apollo ist eine Harlekin-Dogge, Stockmaß 85 cm, die man kaum verstecken kann. Sie sagt dennoch zu. Außer der Verpflichtung, die sie gegenüber dem Verstorbenen fühlt, ist es die Hoffnung auf eine durch den Hund bleibende Verbindung zu ihm.
Wer jetzt eine rührende Mensch-Tier-Geschichte erwartet, wird vielleicht enttäuscht. Obwohl es sehr wohl rührend und sehr warmherzig ist, wie die Autorin und der Hund sich in ihrer beider Trauer näherkommen. Apollo, benannt nach dem Gott, der auch einer der Dichtkunst ist, lässt sich durch Vorlesen beruhigen, zerkaut genüsslich einen Knausgård-Band, bringt dem neuen Frauchen vorsichtig andere Bücher. Die beiden leben Seite an Seite. Und ja, es ist auch eine reizende Geschichte über Freundschaft.
Aber zum Glück nicht nur. Sigrid Nunez schweift von den Annäherungen zwischen Frau und Hund zu Erinnerungen, zu Zitaten aus der Literatur, zu Gedanken über Selbstmord, zu Anekdoten aus dem Literatur- und Universitätsbetrieb und immer wieder zum eigenen Schreibprozess. Das Springen von einem Thema zum anderen hat etwas sehr essayistisches, ist reflektiert, manchmal komisch, manchmal bissig-ironisch und immer sehr warmherzig und unterhaltsam.
Kein Wunder also, das Sigrid Nunez mit „Der Freund“ einen solchen Erfolg hat. Und „Die Frage, die jeder Roman zu beantworten sucht (…): Ist das Leben lebenswert?“, kann nur eindeutig „Ja“ lauten.
Selbst wenn Sigrid Nunez folgende Anekdote erzählt:
„Als Samuel Beckett an einem schönen Frühlingsvormittag mit einem Freund spazieren ging, fragte ihn dieser: Freut man sich an so einem Tag nicht, am Leben zu sein?
So weit würde ich nicht gehen, antwortete Beckett.“
Eine weitere Besprechung bei Isabella novellieren
Beitragsbild von Pexels auf Pixabay
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Sigrid Nunez – Der Freund
Übersetzerin Anette Grube
Aufbau Verlag Januar 2020, gebunden, 235 Seiten, € 20,00
Liebe Petra,
ich habe den „Freund“ schon hier liegen und freue mich – nun, nach dem Lesen deiner Besprechung – schon sehr auf die Lektüre.
Viele Grüße, Claudia
Das freut mich, liebe Claudia. Viel Spaß dabei und bleibe gesund! LG Petra