Ein spannender Krimi, der auch für Nicht-Krimileser einiges zu bieten hat: „Long Bright River“ von Liz Moore.
„Als ich meine Schwester das erste Mal tot auffand, war sie sechzehn“.
Und seitdem fürchtet Michaela Fitzpatrick, genannt Mickey, die als Polizistin in Philadelphia Streife fährt, bei jedem hereinkommenden weiblichen Leichenfund, dass es diesmal tatsächlich die jüngere Schwester Kacey getroffen haben könnte. Diese ist seit ihrer Jugend drogenabhängig und zuletzt als Straßenprostituierte in Mickeys Revier Kensington unterwegs gewesen. Seit einiger Zeit wurde sie aber nicht mehr gesehen, weshalb sich Mickey nun große Sorgen macht, als sie an einen Tatort gerufen wird: weibliche Leiche an den Bahngleisen, vermutlich Überdosis.
Es handelt sich nicht um Kacey. Und auch nicht um eine Überdosis. Mickey erkennt vielmehr bald, dass das Mädchen stranguliert wurde. Und es bleibt auch nicht bei der einen Toten. Ein Serienmörder scheint sich seine Opfer bei den Sexarbeiterinnen von Kensington zu suchen. Gerüchte im Viertel sprechen von einem Cop als Täter. Mickeys feindseliger Vorgesetzter Ahearn will von dieser Theorie aber nichts hören. Und bald ist auch die Zeugin tot.
Zusammen mit ihrem Ex-Kollegen Truman verbindet Michaela die Suche nach dem Mörder mit derjenigen nach ihrer Schwester und begibt sich dabei selbst in Gefahr, weiß irgendwann nicht mehr, wem sie vertrauen kann. Dabei kommt auch eine Schuld, die sie gegenüber Truman empfindet, wieder ans Tageslicht.
drogenhölle kensington
Das ist die spannende Gegenwartsebene von „Long Bright River“, in der Liz Moore ganz tief ins Drogenmilieu von Philadelphia führt. Hier in den einstmals respektablen Stadtteil Kensington, wo die wohlhabende Bürgerlichkeit zunächst klassenbewussten Arbeiterfamilien wich, um dann irgendwann zu dem heruntergekommenen Ort zu mutieren, den die Cops nur noch „Ketamin-City“ nennen. Hier in Kensington liegt einer der größten Drogenmärkte der USA. 2017 wurden allein in Philadelphia 1200 Drogentote verzeichnet. Eine Zahl, die seit Beginn der Opioid-Krise ständig steigt. Amerikanische Pharmafirmen haben jahrelang Opiod-Schmerzmittel massiv beworben und die Nebenwirkungen, besonders die Suchtgefahren verharmlost. Viele ehemalige Patienten wurden dadurch abhängig und sind auf Fentanyl oder Heroin umgestiegen. Eine Krise, die noch lange nicht überstanden ist, auch wenn einzelne Firmen nun zur Verantwortung gezogen werden sollen.
Liz Moore würdigt die Opfer, indem sie zwei Kapitel, die „Listen“, der Aufzählung der Namen von Opfern widmet. Die 1983 geborene Moore hat selbst in Kensington gearbeitet, u.a. in einem Frauenhaus und an Schreibprojekten mit Abhängigen, und kennt die trostlose Atmosphäre des Stadtteils, wo in verlassenen Fabriken gedealt wird, Sanitäter mit Naloxon-Spritzen (Opiod-Antidot) patrouillieren, die Süchtigen sich in Abbruchhäusern oder Hinterzimmern ihren Schuss setzen und die meisten Kinder in dysfunktionalen Familien zur Welt kommen.
dysfunktionale familien
Auch die Familie von Mickey und Kacey war dysfunktional und in mit der Krimihandlung alternierenden „damals“-Kapiteln blendet Ich-Erzählerin Mickey zurück in die Vergangenheit. Vater und Mutter waren heroinabhängig, der Vater Dan setzte sich irgendwann ab, die Mutter starb an einer Überdosis. Großmutter Gee nahm die Mädchen bei sich auf, war aber kalt, hart und ablehnend zu ihnen, letztendlich einfach überfordert. Während Kacey frühzeitig auf die sogenannte schiefe Bahn gerät, schafft es Michaela dank guter Noten und engagierter Lehrer den vorgezeichneten Weg zu verlassen.
Auf einer von der Polizei organisierten Jugendfreizeit lernt sie den Betreuer Simon Cleare kennen Er wird zum Vorbild und Schwarm des jungen Mädchens. Dabei bleibt es aber nicht, er verführt sie und bleibt jahrelang ihr Liebhaber. Simon ist einer der vielen, von Liz Moore äußerst ambivalent und differenziert gezeichneten Charaktere. Das ist eine der vielen Stärken des Romans. Hier wird nicht schwarz-weiß gemalt, alle Figuren haben Licht- und Schattenseiten. Auch die Ich-Erzählerin selbst. Hier dunkles Geheimnis wird im Laufe der Geschichte auch offenbar.
Die Beziehung zu Simon endet unschön, irgendwann zahlt dieser nicht einmal mehr den Unterhalt für den Sohn Thomas. Die Privatvorschule für den Vierjährigen kann sich Mickey nun nicht mehr leisten, sie müssen ihr Haus verkaufen, in eine Wohnung ziehen und eine nicht sehr zuverlässige Babysitterin engagieren. Der Kampf der alleinerziehenden Mutter gegen Geldnot, die Schwierigkeit der Organisation von Kinderbetreuung und Polizeiarbeit ist ein wichtiges, stets präsentes Thema.
spannender krimiplot
So vereinigt Liz Moore in „Long Bright River“ sozialkritische Beobachtungen mit einer berührenden Familiengeschichte und bettet das Ganze in einen spannenden Krimiplot. Die Frage nach moralischer Verantwortung spielt genauso eine Rolle wie die nach Frauensolidarität, familiärer Bindung und der Wahrheit. Schließlich schafft Liz Moore mit Long Bright River noch ein atmosphärisches, knallhartes Porträt der „Drogenhölle“ Philadelphias. Nicht gerade wenig Stoff. Das fällt aber beim Lesen niemals unangenehm auf. Das Buch liest sich packend und unterhaltsam. Eine große Leseempfehlung!
Eindrucksvolle Bilder aus der „Drogenhölle Kensington“ von Dominick Reuter findet ihr auf Spiegel Panorama.
Eine weitere Besprechung findet ihr bei Letteratura und bei Zeichen und Zeiten
Beitragsbild von Bruce Emmerling auf Pixabay
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