Ich bin gerade selbst erstaunt über meine Lektüre im März. Obwohl mich die ganze Sache um Corona doch mehr als gedacht beschäftigt hat, ich doch ganz schön auch um die gesamten abgesagten Termine – Leipziger Buchmesse, Litcologne mit Ann Tyler, Nick Hornby und Delphine de Vigan, eine Lesung mit Eric Vuillard und die Pressekonferenz zum geplanten Gastlandauftritt Kanadas – getrauert habe, habe ich doch einiges gelesen/gehört, das mich ein wenig aufmuntern konnte.
Das dickste der Bücher, Benjamin Quaderers Für immer die Alpen, habe ich allerdings abgebrochen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das das letzte Mal gemacht habe, aber dieses Buch war mal so gar nicht meines. ? Ein geplantes Interview mit dem Autor hatte ich deswegen auch abgesagt (ist aber ja dann auch gar nicht mehr dazu gekommen).
Anlässlich des geplanten Kinostarts der Neuverfilmung von Berlin Alexanderplatz, die ich in einer Pressevorführung Anfang März, bevor Corona dann alles lahmlegte, schon ansehen durfte – 3 Std. intensives Kino – habe ich die Romanvorlage von Alfred Döblin wiedergelesen. Sehr interessant, dieser Vergleich und ich denke, ihr könnt gespannt sein (angedacht ist als neuer Starttermin zunächst der 21. Mai).
Sehr gefallen haben mir im März Monika Helfers Die Bagage, Sigrid Nunez Der Freund, Long Bright River von Liz Moore und Dear Oxbridge von Nele Pollatschek, das ich bereits als Hörbuch kannte (auch sehr empfehlenswert). Ihre Lesung mit Jonathan Coe in Frankfurt ( und Leipzig) ist ja leider auch coronabedingt ausgefallen. Das Buch hat mir aber großen Spaß gemacht.
Das Wichtigste jetzt: Bleibt gesund und zuhause, lest gute Bücher und macht das Beste aus dieser schwierigen Zeit!
Alexandra Riedel – Sonne Mond Zinn
Anton Hamann ist tot. Der Direktor des Observatoriums starb in hohem Alter und hinterlässt die Witwe Isolde und die beiden Söhne Ulrich und Anselm. Zur Beerdigung ist auch Gustav Zinn erschienen. Er ist der Enkel des alten Hamann, aber weder Ulrich noch Anselm ist sein Vater. Seine Mutter Esther Zinn ist eine uneheliche Tochter von Anton, nicht ungeliebt, aber verleugnet, argwöhnisch beäugt von der eifersüchtigen Isolde Hamann und verfolgt vom Klatsch und dem Misstrauen des kleinen Orts. Heimlich teilt sie des Vaters Leidenschaft für die Planeten und die Sterne, bewundert ihn, sehnt sich nach dessen Nähe und Aufmerksamkeit. Da sich Anton aber unter dem Druck seiner Frau nie ganz zu ihr oder gar ihrer Mutter bekennt, leidet das Mädchen. Aber auch an Isolde und ihren Söhne geht die Untreue natürlich nicht spurenlos vorbei.
Das Buch handelt von Antons Beerdigung, von der die Gedanken immer wieder abschweifen zu Esther Zinn, zur Mutter, die Ich-Erzähler Gustav Zinn, ebenfalls vaterlos groß geworden, immer wieder im liebevollen „Du“ anredet. Es geht um die Macht der Familie, selbst dann, wenn man eigentlich gar keine hat.
Alexandra Riedel schreibt in einem originellen, frischen, sehr gelungenen Erzählton, spielt mit (echten und vermeintlichen) Literaturzitaten, Reimen, Dialogen, webt zarte Ironie in ihren Text. Kurz drohte sie mich als Leserin zu verlieren, als sie in einer Episode zu sehr in die Welt der Planeten abschweifte, zu diffus wurde, ihr gelang aber rechtzeitig wieder die Landung auf der Beerdigung.
Mir hat dieses Debüt insgesamt sehr gefallen.
Alexandra Riedel gewann mit „Sonne, Mond, Zinn“ den diesjährigen Bayern 2-Wortspiele-Preis 2020. Der Preis ist mit einem Preisgeld in Höhe von 2000 Euro und einem Stipendium am Goethe-Institut in Peking dotiert. „Ein stilsicherer, nachdenklicher, auch komischer Text, der elegant Fragmente aus Vergangenheit und Gegenwart verwebt und in einer vertrackten Perspektive erzählt, im „Du“ an die Mutter“, heißt es in der Jury-Begründung.
Für mich auch ein heißer Tipp für den Debütpreis 2020.
Jacqueline Thör – Nenn mich einfach Igel
Die 1993 geborene Jacqueline Thör wählt ein eher ungewöhnliches Thema für ihren ersten Roman „Nenn mich einfach Igel“. Igel ist verletzlich, in sich gekehrt, in manchen Situationen fahren sich wie von selbst die Stacheln aus. Dann verletzt Igel sich selbst oder andere. Igel ist anders, weder Mann noch Frau, intersexuell, ein Hermaphrodit. Seitdem ihre Mutter immer wieder in Kliniken bleiben muss, um einen Alkoholentzug zu machen, lebt Igel im „Schloss“ mit anderen Jugendlichen bei Louise. Louise ist selbst als Mann auf die Welt gekommen und hat ein besonderes Verständnis für und Verhältnis zu Igel. Eines Tages kommt ein neues Mädchen ins Schloss, Sascha. Oder ist Sascha ein Junge? Igel fühlt sich sehr schnell zu Sascha hingezogen und es entwickelt sich eine enge, auch sexuelle Beziehung. Aber ist Sascha wirklich zu trauen? Was ist die Merkur-Bewegung, zu der sie/er sich bekennt. Warum war Sascha im Jugendgefängnis?
Es ist ein wirklich außergewöhnliches Thema, das Jacqueline Thör ihren Leser*innen sehr sensibel nahe bringt und Igel ist eine sehr besondere Hauptfigur. Dennoch habe ich mich ihr und ihren Verhaltensweisen nie ganz nähern können. Und das Ende hat mich regelrecht verstört. Deshalb hier keine eindeutige Leseempfehlung.
Marc Bensch – Die unverhoffte Genesung der Schildkröte
Ausfall der LBM bedeutet auch mehr Lesezeit. Ich habe sie dem Debütroman von Marc Bensch gewidmet und sehr vergnügliche Stunden verbracht.Ein Spiel mit dem Leser, ein Erzähler, der die Kontrolle über seine Geschichte zu verlieren droht und Protagonisten, die von der Erkenntnis, nur Figuren eines Romans zu sein, einerseits schockiert, andererseits aber aber wild zum Widerstand entschlossen sind.
Die unverhoffte Genesung der Schildkröte hat mir viel Spaß gemacht.
James Baldwin – Giovannis Zimmer
James Baldwins vielleicht berühmtester Roman von 1956 erzählt die Geschichte einer homosexuellen Liebe, die an den inneren Konflikten des Amerikaners David, seinem Selbsthass und den verinnerlichten Wertvorstellungen seiner puritanischen Heimat genauso zerbricht wie an seiner Unfähigkeit, wirklich zu lieben. Für Giovanni wird das Ende der Beziehung in „Giovannis Zimmer“ tragisch enden. In der hervorragenden Neuübersetzung von Miriam Mandelkow wie zuvor schon „Von dieser Welt“, „Beale street blues“ und „Nach der Flut das Feuer“ bei DTV erschienen.
Nach dem Tod eines engen Freundes erbt die Erzählerin dessen Harlekin-Dogge und bringt sie in ihrer 45 qm New Yorker Wohnung unter. Wer bei „Der Freund“ nun aber eine rührende Mensch-Tier-Geschichte erwartet, wird vielleicht enttäuscht. Obwohl es sehr wohl rührend und sehr warmherzig ist, wie die Erzählerin und der Hund sich in ihrer beider Trauer näherkommen. Die beiden leben Seite an Seite. Und ja, es ist auch eine reizende Geschichte über Freundschaft.
Aber zum Glück nicht nur. Sigrid Nunez schweift von den Annäherungen zwischen Frau und Hund zu Erinnerungen, zu Zitaten aus der Literatur, zu Gedanken über Selbstmord, zu Anekdoten aus dem Literatur- und Universitätsbetrieb und immer wieder zum eigenen Schreibprozess. Das Springen von einem Thema zum anderen hat etwas sehr essayistisches, ist reflektiert, manchmal komisch, manchmal bissig-ironisch und immer sehr warmherzig und unterhaltsam. Ein ganz wunderbares Buch und eine große Leseempfehlung!
Die kanadische Autorin Alix Ohlin erzählt die Kindheit und Jugend der Schwestern Robin und Lark aus der Ich-Perspektive der älteren Schwester, die stets als Vernünftige für ihre kreative, aber unstete Schwester sorgen musste, da die Mutter dies mehr oder weniger verweigerte. Das ist sehr gut und schön zu lesen, ruhig und flüssig und erstreckt sich bis in die Dreißiger ihrer Protagonistinnen, behandelt den Bruch zwischen den Schwestern, das Wiedersehen der Beiden, Larks heftigen Kinderwunsch und Robins Leidenschaft für Wölfe.
Es ist ein nachdenkliches, sanftes Buch über eine „unauflösbare Verbundenheit“. Als Leser*in bleibt man am Ende aber ein wenig ratlos zurück, was einem dieses Buch außer einer Schwesterngeschichte eigentlich erzählen will. Trotz des genauen Blicks darauf und des angenehmen Tons ist das nicht ganz zufriedenstellend, aber insgesamt nur ein kleiner Einwand.
Einer der besten (Wen man so will)Polizeiromane, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Wenn man so will, weil ja, die Ich-Erzählerin ist Streifenpolizistin in der „Drogenhölle“ Philadelphias und sie ermittelt in einer Mordserie an Prostituierten. Aber: „Long Bright River“ ist auch ein Familienroman, denn Mickey Fitzpatrick sucht auch nach ihrer Schwester, die sich in eben diesem Milieu, in dem der Täter seine Opfer sucht, bewegt. Dabei kommt sie ins Grübeln über ihre Familie und die Beziehung zu ihrer Schwester. Und es ist natürlich auch ein genauer, sozialkritischer Blick auf das, was die Opioid-Krise und der ungezügelte Neoliberalismus mit einer Stadt wie Philadelphia anstellt. Starke Leseempfehlung!
Tanya Tagaq gewährt mit „Eisfuchs“ einen Einblick in eine ganz eigene, zutiefst fremdartige und irritierende Gedanken- und Lebenswelt. Nichts an den Kindheits- und Jugenderinnerungen der jungen Inuk, die Ich-Erzählerin ist, ist exotisch, liebenswert, freundlich. Es ist eine kalte, gewaltvolle Welt, in die sie uns führt. Tagaq hat sie aus Erinnerungen, Tagebüchern aus Schulzeiten und Traumtagebüchern hervorgeholt. Mythen der Inuit, Animismus und Geisterwelt, flirrend surreale Traumsequenzen und harte Alltagsbeobachtungen – die Autorin fügt sie zu einer Collage aus kurzen Erzählungen, Gedichten und Vignetten zusammen, ergänzt durch stark reduzierte Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Jaime Hernandez.
Das ist trotz aller Poesie und Naturzeichnung nicht schön zu lesen, sondern hart und gewaltvoll, aber auch sehr dringlich und unmittelbar. Ein faszinierender Blick in eine fremdartige Welt.
Gewidmet hat Tanya Tagaq „Eisfuchs“ den „verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas, und Überlebenden der Residential Schools.“
Michael Kumpfmüller – Ach Virginia
Auch wenn ich Michael Kumpfmüllers biografischen Roman über die letzten zehn Tage im Leben der Schriftstellerin Virginia Woolf gerne gelesen habe, besonders die Leichtigkeit, mit der über die tragischen Stunden, die zu ihrem Freitod geführt haben, geschrieben wurde, durchaus geschätzt habe, bleibt ein klein wenig ungutes Gefühl. Der Ton war mir manchmal zu salopp, der Blick auf Woolf ein bisschen von oben herab. Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass das Buch Virginia Woolf nicht wirklich gerecht wird. Kumpfmüllers wohlwollendes Auge lag spürbar auf Ehemann Leonard Woolf.
Monika Helfer spürt in diesem schmalen Buch der Geschichte ihrer Familie im ländlichen Bregenzerwald nach. Sowohl ihre Mutter Margarete als auch ihre Großmutter Maria starben früh. Auskunft konnte ihr nur die hochbetagte Tante Kathe geben. Diese erzählte ihr von den ärmlichen Verhältnissen im finsteren Tal, von der wunderschönen Maria und dem feschen Großvater Josef, der nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg 1918 seiner schwangeren Frau nicht glaubte, dass das jüngste Kind, Helfers Mutter Margarete, von ihm stammt. Gerede im kleinen Dorf schürte sein Misstrauen, das dazu führte, dass er das kleine Mädchen völlig missachtete. Keine leichte Bürde. Und Monika Helfer führt das Drama um Großmutter und Mutter eng, untersucht die Spuren, die auch bei ihr und ihren Kindern zurückblieben. Und wirft einen unvergesslichen Blick auf ihre bemerkenswerte Familie. Lakonisch, klar, dicht – ein tolles Buch.
Zu den Gedichten von Ocean Vuong – Nachthimmel mit Austrittswunden veröffentliche ich noch eine Kurzrezension. Sie erweitern das Bild, das man durch seinen autobiografisch gefärbten Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ gewonnen hat (der Titel leitet sich von einem der Gedichte ab). Nicht leicht zugänglich, aber durchaus bereichernd.