Die Fiktionalisierung von Biographien bekannter Persönlichkeiten ist immer eine Gradwanderung, die mal mehr, mal weniger gut gelingt. Sie ist umso schwieriger, je bekannter und verehrter die gewählte Person ist und je tiefer sich der Autor in die Gefühle und Gedanken des/der Porträtierten versenkt, ohne darüber verlässliche Informationen zu besitzen. Sich dafür eine Ikone wie Virginia Woolf auszusuchen, ist geradezu mutig. Michael Kumpfmüller ist mit „Ach, Virginia“ dieses Wagnis eingegangen, nachdem ihm etwas Ähnliches mit Franz Kafka 2011 in „Die Herrlichkeit des Lebens“ bravourös geglückt ist.
Die intellektuelle, ätherische Virginia Woolf wird bis (und vielleicht besonders) heute heftigst verehrt. Mit ihre avantgardistischen Romanen wie Mrs. Dalloway, Zum Leuchtturm oder Die Wellen zählt sie zu den bedeutendsten Autor*innen der klassischen Moderne, durch ihren eigenwilligen Lebensstil und ihren Essay „A room of One´s Own“ wurde sie zur Ikone der Frauenbewegung. Ihre fragile psychische Konstitution und ihr tragisches Ende durch den Freitod durch Ertrinken trugen zu ihrem Nachruhm sicher auch etwas bei.
Die letzten zehn tage im leben von virginia woolf
Nun nimmt sich Michael Kumpfmüller die letzten zehn Tage im Leben Virginia Woolfs vor und schon im Titel „Ach, Virginia“ steckt ein wenig von der Haltung, die der Autor ihr gegenüber einnimmt. Da ist wenig Ehrfurcht, vielleicht noch nicht einmal besonders viel Respekt, eher ein wohlwollendes, aber letztlich verständnisloses Kopfschütteln, ein wenig Nachsicht, ein wenig Mitleid. Insgesamt eine Position, die in der Literaturkritik schon heftige Abwehr gegen den Roman hervorgerufen hat. Und generell stellt sich der Leser*in die Frage, ob ein gelungener biografischer Roman aus der Feder eines Autoren kommen kann, der seiner zu porträtierenden Person so distanzlos gegenübertritt, wie das Kumpfmüller in diesem Werk tut.
Virginia Woolfs bisheriges Leben und Arbeiten fasst er zu Beginn auf fünf Seiten zusammen. Ein Gefühl für den Ton des Buches kann man vielleicht durch folgende Passage bekommen:
„Doch insgesamt hält sich ihr Unglück über zwei Jahrzehnte in Grenzen. Man liegt vorübergehend flach und hat üble Gedanken, bevor man sich tapfer wieder hochrappelt und in das nächste, noch größere, noch buntere Karussell steigt, das das Leben als Berühmtheit ist.“
„Interkontinentalflug“ ist dieser kurze, einleitende Abschnitt betitelt.
„Wäre das Leben ein Interkontinentalflug, befände sie sich eindeutig in der Sinkphase. Der Großteil der Reise liegt hinter ihr, man nähert sich der Landebahn, streift über verstreute Siedlungen, Felder, Wiesen, bevor die Maschine mit einem ziemlichen Rums auf dem Boden der neuen Tatsachen aufsetzt.“
abschied
So fasst Kumpfmüller die Situation in jenem März 1941 – Virginia Woolf ist neunundfünfzig Jahre alt, seit dreißig Jahren in einer eher platonischen Ehe mit Leonard Woolf verheiratet, ihre Liebesbeziehung zu Vita Sackville-West lag schon eine Weile zurück und ihren Roman „Zwischen den Akten“ hat sie gerade beendet – zusammen. In „Ach Virginia“ lässt Michael Kumpfmüller sie bereits am 18. März den berühmten Abschiedsbrief an Leonard verfassen, der mit den Worten
„Liebster, ich spüre mit Sicherheit, dass ich wieder verrückt werde.“
beginnt und mit
„Alles, außer der Gewissheit Deiner Güte, hat mich verlassen. Ich kann Dein Leben nicht länger ruinieren. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir gewesen sind.“
endet. Ein bereits an diesem Tag versuchter Freitod im Fluss Ouse nahe dem Landhaus „Monk`s House“ in Rodmell/South Essex, in das sich das Paar zurückgezogen hat, scheitert. Die Londoner Wohnung wurde bei einem Bombardement zerstört und das Brummen der Maschinen der deutschen Luftwaffe gibt ein beständiges Hintergrundgeräusch ab. Die Woolfs leben in Angst vor einer deutschen Invasion – Leonard Woolf war Jude – und haben die entsprechenden Vorkehrungen getroffen.
gedankenstrom
Virginia Woolf litt seit einiger Zeit wieder verstärkt unter Schlaf- und Ruhelosigkeit, hörte Stimmen und glitt in eine Depression ab. Symptome einer bipolaren Störung, die seit jungen Jahren immer wieder auftrat. In einem an ihren Erzählstil angelehnten Gedankenstrom, stets in der dritten Person bleibend und zugleich ganz nah an sie herantretend, in sie hineinschlüpfend, begleitet Michael Kumpfmüller seine berühmte Protagonistin durch die nächsten zehn Tage. Durch alltägliche Verrichtungen, Erinnerungen an nahestehende Menschen wie ihre Schwester Vanessa, an Vita Sackville-West, an ihren jung an Typhus verstorbenen Bruder Thoby, an ihre, sie als Kind vermutlich sexuell missbrauchenden Halbbrüder und durch ihre Selbstzweifel.
Besonders sympathisch stellt Michael Kumpfmüller sie dabei nicht dar, öfter hört man zwischen den Zeilen ein leicht verständnisloses „Ach, Virginia“. Diese wird leicht wirr und ziemlich unselbständig beschrieben, auf die Fürsorge ihres Mannes Leonard angewiesen, dem sie zwar in Liebe zugetan ist, dem gegenüber sie aber genau wie gegenüber beispielsweise ihrer Konkurrentin Katherine Mansfield auch ziemlich gehässig sein konnte. Insgesamt stellt sie Kumpfmüller als eine große Egozentrikerin hin, oft hochmütig, manchmal gefühllos. Als der eigentlich Liebenswerte erscheint hier ihr Mann Leonard, der sich aufopferungsvoll und geduldig seiner Frau widmet.
interkontinentalflug 2
Ihm ist auch der letzte, wiederum „Interkontinentalflug“ betitelte Abschnitt gewidmet. Er ist der wahre Held diese Buchs, die Muse hinter dem Genie, der Mann, der seiner Frau stets den Rücken stützte und frei hielt. In zehn knappen Seiten wird sein weiteres Leben ohne Viginia skizziert.
Wie es sich wirklich verhielt, kann man wohl nicht letztgültig herausfinden, auch wenn es sehr viele Selbstzeugnisse, wie beispielweise Tagebücher von Virginia und auch ein Buch von Leonard über seine Frau gibt. Mir war der Umgang Michael Kumpfmüllers mit Virginia oft zu salopp, zu von oben herab, zu übergriffig angesichts der Bedeutung und der Tragik dieses Lebens.
Was allerdings nicht heißen soll, dass ich das Buch nicht gern gelesen habe. Es ist gut geschrieben, heiter trotz der enthaltenen Tragik. Aber wie gesagt, fiktionalisierte Biographien sind immer eine Gratwanderung. Und ich bin mir nicht sicher, ob Michael Kumpfmüller bei „Ach, Virginia“ nicht das eine oder andere Mal dabei abgerutscht ist.
Eine weitere Besprechung findet ihr auf Binge Reading & More
Beitragsbild: Virginia Woolf sitting in an armchair at Monk’s House, unknown author, public domain via Wikimedia Commons
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Michael Kumpfmüller – Ach Virginia
Kiepenheuer&Witsch Februar 2020, gebunden, 240 Seiten, € 22,00
mE ist der Roman nicht wirklich gut geschrieben. Er scheitert auch weniger an der Haltung zu Frau Woolf, die vielleicht wirklich aus moderner Sicht nicht all zu sympathisch war, als an der eklatanten Differenz der schriftstellerischen Mittel zwischen Kumpfmüller und Woolf. Kumpfmüller, der ja immerhin einen Personalen Erzähler quasi aus den Augen Woolfs erzählen lässt, bringt nur Sätze zustande, die allesamt gleich klingen, ja, gleich aufgebaut sind. Ein personaler Erzähler aber müsste vom Genie Woolfes affiziert sein, das zur gleichen Zeit noch das so sensible „Between the Acts“ zu stande brachte. Tatsächlich zeigen allein die Tagebuchzitate in Ach Virginia die Fallhöhe von Woolf zu Kumpfmüller.
Die sprachlichen Mittel sind sicher nicht mit denen Woolfs vergleichbar. Der „saloppe“ Ton kann gern auch mit „sprachlich ungenügend“ übersetzt werden. Aber auch die herablassende Art Woolf gegenüber hat mich gestört, ganz gleich was man von ihr als Charakter hält. Ganz verteufeln möchte ich das Buch aber nicht.