Anne Tyler – Der Sinn des Ganzen
Micah Mortimer lebt wie die Autorin selbst und viele ihrer Romanhelden in Baltimore. Er ist Anfang vierzig und hat einen äußerst geregelten Alltag. Am Morgen geht er in aller Frühe bei nahezu jedem Wetter joggen, danach frühstückt er und widmet sich dann seiner Arbeit. Wäre man böswillig, könnte man Micah leicht einen Versager nennen. Denn aus seiner durchaus hohen Begabung auf dem Feld der Informatik hat er nichts zu machen gewusst. Ein von ihm entwickeltes Computerprogramm, das er mit einem Kollegen vertrieb, ging ihm beim Verlassen der Firma verloren, da er sich nicht die Rechte daran sichern ließ. Nun betätigt er sich als SOS-Dienst für jegliche Art von Computerproblemen. Als „Tech-Eremit“ macht er Hausbesuche und behebt – meist unerhebliche – Störungen für kleines Geld. Micahs Handbuch „Erst mal den Stecker rein“ verkauft sich zwar ganz gut, persönlicher Kontakt ist aber für viele Kunden wichtiger.
Da sich als „Tech-Eremit“ nicht viel Geld verdienen lässt, verrichtet Micah gegen freie Miete noch die Hausmeistertätigkeiten in seiner Wohnanlage, so gewissenhaft und pünktlich, wie er sein ganzes Leben führt. Ein wenig zwanghaft ist er schon, der Micah. So sitzt der „Verkehrsgott“ in seinem Kopf als moralische Instanz immer mit im Kia und hat ein Auge auf seine Fahrkünste und bewahrt ihn so vor Fehltritten. Man könnte diesen Mann nun leicht bedauern und als gescheitert und ein wenig spleenig abstempeln, aber Anne Tyler lässt diesen Gedanken eigentlich nie aufkommen.
Sie schaut sehr liebevoll, mit Respekt, wenn auch genau hin. Auch wenn sie sich manchmal leise ein wenig über ihn amüsiert, geschieht das doch immer mit Achtung davor, wie dieser Mann sein Leben meistert.
ein gutes leben?
Und so ganz schlecht ist es ja auch nicht. Er hat ein bescheidenes Auskommen, eine saubere Wohnung und hat ein gutes Verhältnis zu seinen vier sehr lebhaften Schwestern nebst Ehemännern, Nichten und Neffen. Und er führt eine zwar wenig aufregende, aber befriedigende Beziehung zu der Lehrerin Cass. Bis zu dem Zeitpunkt, als diese kurz vor dem Rauswurf aus ihrer Wohnung steht, da sie trotz Allergie der Hauptmieterin eine Katze bei sich aufgenommen hat.
Micah kommt es gar nicht in den Sinn, ihr anzubieten, bei ihm einzuziehen. Außerdem ist er gerade ein wenig durch den Besuch eines jungen Mannes irritiert. Dieser Brink ist der Sohn seiner Jugendliebe Lorna und auf der Suche nach seinem leiblichen Vater. Auch wenn sich sehr bald herausstellt, dass Micah das nicht sein kann, quartiert er sich zunächst in dessen Gästezimmer ein.
Wie meist bei Anne Tyler entstehen aus diesen kleinen Irritationen aber keine spektakulären Enthüllungen oder auch nur mittelgroße Dramen. Das Leben geht weiter, so oder so.
Wieder ist Anne Tyler einer ihrer leisen, kleinen Romane gelungen, in denen sie liebevoll, humorvoll, aber auch unbestechlich auf unsere Welt und ihre Menschen schaut. Ihr Micah wurstelt sich so durch, klagt nicht, sucht sein kleines Glück und ist ein zutiefst anständiger Mensch. Es tut gut, davon zu lesen.
redhead by the side of the road
Ein klein wenig schade finde ich, dass der so charmante Originaltitel im Deutschen wieder in so etwas Bedeutungsschwangeres wie „Der Sinn des Ganzen“ verändert wurde. „Redhead by the side of the road“ lautet er im Original. Nach dem blassroten Hydranten, der Micah auf seiner Joggingrunde immer wieder, jeden Morgen, wider besseren Wissens, auf die Entfernung als „kleiner Rotschopf“ erscheint, weil er mal wieder seine Brille nicht aufgesetzt hat. Der für Anne Tylers sanften Humor so typische Scherz verbirgt sich in diesem Titel.
Eine weitere Besprechung findet ihr beim Leseschatz
Hier könnt ihr meine Besprechung zu Anne Tylers Beitrag zum Hogarth Shakespeare Project nachlesen. Die störrische Braut hat mich allerdings leicht enttäuscht. Lieber zu ihren älteren Werken greifen! (Der leuchtend blaue Faden, Im Krieg und in der Liebe oder natürlich Atemübungen, mein Lieblingsbuch von ihr)
Beitragsbild by Mr.TinDC (CC BY-ND 2.0) via Flickr
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Anne Tyler – Der Sinn des Ganzen
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Kein & Aber März 2020, Hardcover, 224 Seiten, 22,00 EUR
Ich glaube ich habe noch nie ein Buch von Anne Tyler gelesen. Sollte ich aber wohl mal.
Liebe Grüße
Andrea
oh ja, unbedingt! Ann Tyler schreibt ganz wunderbare Romane. Vielleicht kennst du den Film Die Reisen des Mr. Leary. Der beruht auch auf einem Buch von ihr. Viel Spaß beim Entdecken. Viele Grüße, Petra
Moin und vielen Dank für die nette Verlinkung!
Herzliche Grüße, Hauke
Sehr gerne!