Die Geschichte, die Dirk Kurbjuweit in seinem Kriminalroman „Haarmann“ erzählt, ist eine ungeheuerliche und noch dazu eine wahre. Kein Wunder, dass sie seit fast einhundert Jahren eine riesige (negative) Popularität besitzt und in unzähligen Adaptionen in Theater, Kino, bildender Kunst, Musik und Literatur aufgenommen wurde. Fritz Langs berühmter Film „M-Eine Stadt sucht einen Mörder“ von 1931 ist an sie angelehnt, ebenso „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ von 1973. 1995 entstand „Der Totmacher“ von Romuald Karmakar mit Götz George in der Rolle des Serienmörders Fritz Haarmann. Der österreichische Maler und Bildhauer Alfred Hrdlicka schuf einen Haarmann-Zyklus und einen Haarmann-Fries. Das Lied „Warte, warte nur ein Weilchen“ wurde ein echter Gassenhauer und existiert auch in einer etwas makabren beschwingten Jazz-Version von Hawe-Schneider.
Hawe Schneider (kann hier auf youTube angehört werden)
Friedrich „Fritz“ Heinrich Karl Haarmann
Fritz Haarmann, der zwischen 1918 und 1924 in Hannover mindestens 24 Jungen und junge Männer auf bestialische Weise ermordete, zerstückelte und auf ziemlich krude Art entsorgte, ist fast so etwas wie eine Volksfigur geworden. Dass er schon verschiedene Male für die Stadtwerbung Hannovers, u.a. auf einem Adventskalender, benutzt wurde, hat auch Proteste ausgelöst. Generell ist die Versuchung groß, einen solchen spektakulären Kriminalfall, der zudem nie restlos aufgeklärt wurde, voyeuristisch und sensationslüstern auszuschlachten. Eine erste seriöse Bearbeitung des Falls (trotz des Titels „Haarmann. Die Geschichte eines Werwolfs“) geschah durch Theodor Lessing, der als Prozessbeobachter zugegen war und auch die gesellschaftlich-politischen Umstände der Verbrechen in den Blick nahm, und erschien bereits 1925.
Auch Spiegel-Journalist Dirk Kurbjuweit vermeidet mit seinem Roman „Haarmann“ jede Effekthascherei, sondern erzählt nüchtern und schnörkellos und packt jede Menge Zeitkolorit in seine minutiös recherchierte Geschichte des „Vampirs“, „Schlächters“, „Kannibalen von Hannover“.
Der 1879 geborene Fritz Haarmann soll in der Kindheit, unter anderem von seinem älteren Bruder, wiederholt sexuell missbraucht worden sein. Nach der Schlosserlehre besuchte er eine Unteroffiziersschule, die er aber wegen Halluzinationen und Verhaltensauffälligkeiten frühzeitig verlassen musste. Bereits in jugendlichem Alter wurde ihm selbst sexueller Missbrauch von Nachbarskindern vorgeworfen, 1896 kam es zu einer ersten Anklage, als deren Folge er in eine Heilanstalt eingeliefert wurde. Er entkam und ging 1900 zum Militär, aus dem er aber wiederum, diesmal mit der Diagnose Schizophrenie, ausschied. Zunehmend taucht er nun in den Polizeiakten als 175er (Paragraph 175, das sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte) und Kleinkrimineller auf. Gleichzeitig betätigte er sich als Polizeispitzel. Den ersten Weltkrieg verbrachte er im Gefängnis. 1918 kam es dann wohl zu seinem ersten Mord.
Die mordserie
Dirk Kurbjuweit beginnt „Haarmann“ fünf Jahre später, im Oktober 1923. Der aus Bochum neu hinzugezogene Kriminalkommissar Robert Lahnstein soll endlich Licht in die Reihe der seit Jahresbeginn gemeldeten Vermisstenfälle bringen, elf Jungen sind es mittlerweile, fünfzehn weitere sollen noch folgen. Denn auch wenn Lahnstein durchaus mit Eifer an der Aufklärung der vermuteten Verbrechen arbeitet, stellt er sich nicht besonders gut an. Überhaupt ist die Tatsache, dass die Taten erst so spät aufgeklärt wurden, das vielleicht Erschreckendste und Verblüffendste am Fall Haarmann.
Gerüchte, Gerede, Beschuldigungen, ja sogar Anzeigen lagen frühzeitig vor, bereits nach dem ersten Mord 1918, der von Lahnstein erst deutlich später als zu der Serie dazugehörend erkannt wird. Das größte Problem stellte dabei dar, dass niemals Leichen gefunden wurden. Aber in Fritz Haarmanns Dachstube sollen die „Puppenjungen“, Herumtreiber und Stricher, aus- und eingegangen sein. Allerdings, so ein Nachbar, deutlich mehr ein als aus. Haarmann, der neben Altkleidern auch Fleisch verkaufte, ja in seinem kleinen Zimmer sogar schlachtete, soll zeitweise merkwürdiges, außerordentlich billiges Fleisch auf den Markt gebracht haben. „Menschenfleisch“ wird gemunkelt.
die aufdeckung
Warum erst der Fund mehrerer Menschenschädel in der Leine im Sommer 1924 und schließlich eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen Haarmann und einem jungen Mann am Hauptbahnhof Hannovers zur Verhaftung und Vernehmung des Mörders geführt haben, wird wohl eines der Geheimnisse der Kriminalgeschichte bleiben. Hat die Polizei Fritz Haarmann zum Teil gedeckt, weil er als Polizeispitzel tätig war? Ein bei ihm gefundener Polizeiausweis, mit dem er sich teilweise das Vertrauen der Jungen erschlichen hat, deutet zumindest darauf hin. Oder waren die Opfer, die „Puppenjungen“, den Beamten und letztlich auch der Bevölkerung eine intensivere Verfolgung der Vermisstenanzeigen nicht wert? War die Gesellschaft so kurz nach dem Krieg, in der krassen Armut, die in der Hannoverschen Altstadt herrschte, so verroht, dass sie das Schicksal der Opfer nicht weiter kümmerte? Dass bei den beengten Wohnverhältnissen kein Nachbar etwas von Haarmanns Treiben mitbekommen haben sollte, ist kaum vorstellbar.
Fritz Haarmann hat durchaus nicht alle seine „Herrenbesuche“ getötet. Aber manchmal „überkam“ es ihn im Liebesrausch und er biss seinen Gespielen, den er meist auf dem Hauptbahnhof aufgegriffen hatte, in den Adamsapfel, würgte ihn zugleich und tötete ihn so. Nach der Tat zerstückelte Haarmann seine Opfer und entsorgte sie über den Abort, in der Leine oder – man munkelte es, er bestritt es bis zum Schluss – verkaufte das Fleisch an Gaststätten.
der ermittler
Dirk Kurbjuweits personale Perspektive liegt hauptsächlich auf Ermittler Robert Lahnstein. Nur zu Beginn und am Ende eines jeden Kapitels wechselt diese auf den Jungen Martin, das (fiktive) Opfer, und auf Fritz Haarmann, die sich von Kapitel zu Kapitel aufeinander zubewegen, was die Spannung erhöht. Auch Robert Lahnstein ist eine fiktive Gestalt, die aber stark an den damaligen Ermittler Hermann Lang angelehnt ist. Aber dessen Gedanken und Gefühle, dessen Lebensgeschichte sind natürlich im Gegensatz zu vielen Details aus Haarmanns Leben, nicht bekannt. Deshalb greift Kurbjuweit hier zu einer fiktiven Person.
Das gelingt dem Autor auch überwiegend sehr gut. Der der SPD nahestehende Lahnstein, der am Ersten Weltkrieg als Pilot teilnahm, dessen Vater auch ein Kriminaler war und der in der Trauer um seine verstorbene Familie immer wieder in Depressionen und Albträumen versinkt, ist sympathisch, aber durchaus nicht unfehlbar. Gerade als Ermittler im Fall Haarmann ist er zwar bemüht, aber durchaus keine Leuchte. Sein Widersacher ist der monarchistisch eingestellte Kollege Müller, der augenscheinlich mit Haarmann gekungelt hat und wenig Interesse an einer Aufklärung des Falles zeigt.
der tatort
Neben der Figurenzeichnung ist Kurbjuweit auch die Schilderung der heruntergekommenen Altstadt Hannovers rund um die damalige Leineinsel, auch Klein Venedig genannt, sehr gut gelungen. Die einst prächtigen Fachwerkhäuser verfielen immer mehr und wurden zum Wohnort der Ärmsten der Armen und zum Rotlichtviertel der Stadt. Nur in einer solchen Umgebung konnte ein solches Verbrechen überhaupt möglich sein. Außerdem thematisiert der Autor auch die politisch-gesellschaftlichen Umstände, die instabile Weimarer Republik, der immer noch der „Schandfrieden“ und der Versailler Vertrag vorgeworfen wurde, deren Beamte noch vorwiegend monarchistisch, auf jeden Fall nicht staatstragend eingestellt waren. Und deren junger Demokratie vorgeworfen wurde, nicht für die Sicherheit ihrer Bürger sorgen zu können.
Ein klein wenig schwächelt der Roman in seinen fiktiven Passagen. Während die Figur des Robert Lahnstein noch sehr authentisch ist, wirkt dessen (fiktive) Bekanntschaft mit der Schwester Haarmanns doch sehr konstruiert. Ebenso, dass Lehnstein gerade in einer der berüchtigten Gaststätten ein verdächtig wirkendes Stück Fleisch verspeist oder dass ihn eigene homosexuelle Erfahrungen aus der Kriegszeit verfolgen. Auch dass das Schicksal von Frau und Sohn so lange verborgen und verhüllt wird, wirkt aufgesetzt. Aber das sind nur ganz kleine Mängel an einem gut recherchierten, spannend umgesetzten und klar erzählten True-Crime-Roman, den ich mit großem Interesse und sehr gern gelesen habe.
Auf der kleinen literarischen Sternwarte Astrolibrium könnt ihr eine weitere Besprechung nachlesen.
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Beitragsbild: Der Haarmann-Fries des Bildhauers Alfred Hrdlicka im Sprengel Museum in Hannover by Tim Rademacher / CC BY-SA via Wikimedia Commons
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Dirk Kurbjuweit – Haarmann
Penguin Februar 2020, Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten, € 22,00