Lektüre April 2020

So wunderschön das Wetter in diesem April auch war – für mich war er kein guter Monat. Die Lektüre im April 2020 hingegen ließ wenig zu wünschen übrig. Sehr interessante Bücher habe ich gelesen. Nur eines der Bücher konnte mich gar nicht für sich einnehmen.

Die vielseitigen und wirklich häufigen literarischen Veranstaltungen im Internet (hauptsächlich auf Instagram) überraschen mich immer noch in ihrer Kreativität und Leidenschaft. Es ist ganz großartig, was da Autoren, Verlage, Buchhandlungen, Blogger usw. auf die Beine stellen. Man könnte den ganzen Tag online bleiben ohne sich zu langweilen (dazu kommen noch die vielen Musiker, Theater, Bühnen). Das Kreuz ist, dass ich, wenn ich keine Eintrittskarte und einen festen Termin habe, diese tollen Veranstaltungen meist allesamt verpasse. Immer irgendwas zu tun, immer irgendwer, der was von einem will. Ich habe die meisten dieser Aktionen schlichtweg verpasst.

Trotzdem würde ich gerne Danke sagen für das ganze Angebot. Bitte unterstützt die Autoren, Verlage, Buchhandlungen, gerade die Titel, die durch die Coronakrise nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie sonst auf Messen, Lesungen usw. erhalten hätten. Das Frankfurter Literaturhaus hat auf Instagram unter dem Hashtag#zweiterfruehlingbuecher aufgerufen, die Frühjahrstitel nicht mit den nun nach und nach eintreffenden Herbstprogrammen und -neuerscheinungen zu vergessen, sondern sie bis ins nächste Jahr im Auge zu behalten. Das möchte ich gerne tun.

Der Frühling 2020 war ein sehr starkes Buchhalbjahr. Einen Teil seht ihr in meiner Lektüre April 2020 und in Lektüre März 2020. Fortsetzung folgt.

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Anna Burns MilchmannAnna Burns – Milchmann

Der geniale Anfangssatz von „Milchmann“, dem 2018 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman von Anna Burns, lautet so: „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“ Anna Burns schreibt in „Milchmann“ über den Nordirland-Konflikt der 1970er Jahre, auch wenn das nirgendwo expliziert steht und der Leser nach diesen Zusammenhängen ein wenig suchen muss. Sie schreibt über Machtstrukturen und den Mechanismen von sozialem Druck und Überwachung. Sie schreibt über strukturelle Gewalt gegen Frauen.
Und das alles in einem wunderbar skurrilen Ton, der die Absurdität des Geschehens betont. Die konsequente Vermeidung von Namen für Protagonisten und Orte mag den einen oder anderen Leser irritieren und es dauert vielleicht eine Weile bis man in den Lesefluss gerät.
Gelingt es, sich auf diesen besonderen Text einzulassen, liest man einen so klugen wie heiteren, so skurrilen wie politisch aufschlussreichen Text. Für mich gehört er schon zu den Highlights der ersten Jahreshälfte.

 

Jonathan Coe - EnglandJonathan Coe – Middle England

Ein so unterhaltsamer wie aufschlussreicher Gesellschaftsroman aus Brexit-Land ist Jonathan Coes „Middle England“. Hier, nicht in der weltoffenen, wohlhabenden, kulturschaffenden Metropole London, wurde über die Zukunft des Landes abgestimmt. Wurde Europa der Rücken gekehrt und waren doch vor allem auch jene gemeint, die von der Globalisierung, von der Öffnung des Landes und der Märkte profitieren. Ein Teil des Landes fühlt sich abgehängt, missachtet, erkennt sein ‚Old England‘ nicht mehr und sucht es in alter Größe, im British Empire, das sich nicht der Welt öffnete, sondern diese noch beherrschte, kolonalisierte. Diese Befindlichkeiten in einen klugen, unterhaltsamen, ironisch-heiteren Roman gepackt zu haben, ist Jonathan Coe sehr gut gelungen.

 

Franziska Hauser - Die GlasschwesternFranziska Hauser – Die Glasschwestern

Drei Schwestern, die völlig verschieden sind. Zwei davon sind Zwillinge, ein Familiengeheimnis und dazu noch ein wenig dunkle DDR-Geschichte – leider konnte mich Franziska Hauser mit ihren „Glasschwestern“ nicht überzeugen.

 

 

 

 

Anne Tyler – Der Sinn des GanzenAnne Tyler – Der Sinn des Ganzen

Wieder ist Anne Tyler einer ihrer leisen, kleinen Romane gelungen, in denen sie liebevoll, humorvoll, aber auch unbestechlich auf unsere Welt und ihre Menschen schaut.
Ihr Micah Mortimer wurstelt sich so durchs Leben. Als Computerexperte „Tech-Eremit“ löst er kleine und größere IT-Probleme bei den Menschen vor Ort und genießt seine Selbständigkeit und ein streng geregeltes, durchgetaktetes Leben. Als Hausmeister seiner Wohnanlage verdient er etwas dazu. Eine nicht sehr leidenschaftliche, aber zuverlässige Beziehung hat er mit der Lehrerin Cass. Doch unvermutetet kommt irgendwann dieses so geordnete Leben ins Rutschen. Zumindest ein klein bisschen. Mehr Drama braucht es bei Anne Tyler nicht. Micah sucht sein kleines Glück und ist ein zutiefst anständiger Mensch. Es tut gut, davon zu lesen.

 

Dirk Kurbjuweit - HaarmannDirk Kurbjuweit – Haarmann

Der Fall Haarmann ist einer der grausigsten der deutschen Kriminalgeschichte.
Von 1918 bis 1924 ermordete Fritz Haarmann in Hannover mindestens 24 Jungen und junge Männer zwischen elf und 22 Jahren, meistens solche, die zuhause nicht weiter vermisst wurden, Ausreißer, Stricher. Haarmann ermordete sie nach eigenem Bekunden „im Liebesrausch“ indem er sie regelrecht totbiss. Die Leichname zerstückelte er fachgerecht (er war u.a. auch als Schlachter und Fleischhändler tätig) in seiner kleinen Dachstube und entsorgte sie im Abort und in der Leine.
Das Unfassbarste ist, dass Haarmann trotz zahlreicher Hinweise und Gerüchte (die Fleischpreise sanken, nachdem ein neuer Junge verschwand ) nicht früher überführt wurde. Keiner der Nachbarn, die in der ärmlichen Hannover Altstadt Tür an Tür mit ihm gelebt haben, will etwas gemerkt haben. Oder lag das daran, dass Haarmann auch als Polizeispitzel gearbeitet hat?
Dirk Kurbjuweit hat gut recherchiert und den berühmten Kriminalfall in einen packenden Roman mit viel Zeitkolorit verwandelt.

 

 

Yvette-Z´Graggen – Deutschlands Himmelyvette zgraggen-deutschlands himmel

In ihren 1996 zunächst auf Französisch, 2011 dann erstmals in deutscher Übersetzung beim Lenos Verlag erschienenen autobiografischen Aufzeichnungen „Deutschlands Himmel“ denkt die Schweizer Autorin Yvette Z´Graggen über ihr schwieriges Verhältnis zu Deutschland, seinen Menschen und seiner Kultur in der Nachkriegszeit nach. Als Kind eines Deutschschweizer Vaters und einer aus Wien stammenden Mutter wurde sie in Genf geboren und wuchs auch dort deutschsprachig auf. Sie fühlte sich durchaus zur deutschen Nation hingezogen, spürte auch die Schwierigkeiten, die ihre Eltern als Zugereiste in Genf hatten. Ihre Liebe zu Deutschland endete mit dem Weltkrieg und den von den Nationalsozialisten initiierten Gräuel und führte zu einer starken Abneigung gegen alles Deutsche. Dadurch kam es auch zum Abbruch einer langjährigen Brieffreundschaft zum Deutschen Herbert. 1950 reiste Yvette Z´Graggen zum ersten Mal wieder nach Berlin. Eine Mischung aus Autobiografie, Reportage und Analyse, die ich vor allem wegen der sehr atmosphärischen Schilderungen gern gelesen habe.

 

Ingo Schulze - Die rechtschaffenen MörderIngo Schulze – Die rechtschaffenen Mörder

In seiner Geschichte vom DDR-Antiquar Norbert Paulini, der nach der Wende Einfluss und Verdienst verliert und politisch nach rechts zu driften scheint, geht es Ingo Schulze mit in meinen Augen nicht in erster Linie um einen Roman über die Verfasstheit der ostdeutschen Bevölkerung oder rechtsextreme Strömungen (auch wenn das in der Kritik meist so aufgenommen wurde). Nach dem ersten Romanteil, der recht konventionell den Lebensweg Paulinis begleitet, greift der Autor ganz gehörig in die Metafiktions-Kiste. Verunsicherung, Zweifel streuen, Leseerwartungen durcheinanderwirbeln, das ist hier Programm. Uneindeutigkeit und Satire sind die Mittel in Teil zwei und drei des Buches. Das wird nicht jeder Leser/jede Leserin goutieren. Ich habe mich gut und auf literarisch hohem Niveau unterhalten gefühlt.

 

Éric Vuillard – Der Krieg der Armen

eric-vuillard-krieg-der-armenÉric Vuillard ist ein Meister im äußerst verknappten Erzählen von historischen Begebenheiten. Auswahl, Konzentration und Subjektivität sind seine Mittel. Um größere Zusammenhänge darzustellen, wählt er einzelne Episoden, oft mit ungewohntem Blickwinkel. Was ihm in „Die Tagesordnung“ und „14. Juli“ so grandios gelungen ist, funktioniert bei dem „Krieg der Armen“, der die Bauernkriege und vor allem Thomas Müntzer zum Thema wählt, nur bedingt. Hier ist das Geschilderte zu breit, das Buch mit knapp 64 Seiten dann doch zu schmal. Der Person Thomas Müntzer kommt man kaum nahe, anders als in den Vorgängerbüchern, wo manchmal wenige Sätze ausreichten, um Menschen lebendig werden zu lassen. Ein wenig unfertig wirkt „Der Krieg der Armen“ deshalb auf mich. Ein wenig wie eine Skizze. Interessant ist es aber dennoch, wenn man Vuillards Art der Geschichtsdarstellung schätzt.

 

 

Ocean Vuong – Nachthimmel mit Austrittswundenocean-vuong-nachthimmel-mit-austrittswunden

Im vergangenen Jahr hatte Ocean Vuong mit seinem Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ einen Riesenerfolg und hat auch mich nachhaltig beeindruckt. Deshalb wollte ich seinen Poesieband „Nachthimmel mit Austrittswunden“ unbedingt lesen, auch wenn ich eigentlich keine Lyrik-Leserin bin. Sehr persönlich war dieser autobiografische Roman, offen verwundbar. Und das sind seine Gedichte auch. Sie sind meist lang, außergewöhnlich gesetzt, ohne Reim, dennoch wenig narrativ. Thematisch ergänzen sie den Roman, machen ihn zugänglicher und werden durch ihn. Identität ist eines der Themen. Identität, um die Ocean Vuong als queerer Mann, als vietnamesischer Migrant in den USA, als Sohn eines abwesenden Vaters, einer gewaltbereiten und dennoch geliebten Mutter, immer wieder ringt. Rassismus, der Vietnamkrieg, Familie, besonders das (Nicht)Verhältnis zum Vater sind andere. Telemach heißt eines der Gedichte. Eine Anknüpfung an Homers Odyssee findet mehrmals statt. Auf Erden sind wir kurz grandios ein anderes. Und das vorletzte Gedicht ist Eines Tages werde ich Ocean Vuong lieben betitelt. Es ist ihm zu wünschen.

Die Qualität der deutschen Übersetzung mag ich nicht beurteilen. Rhythmus und Klang der Poesie Vuong gehen aber meiner Meinung nach ziemlich verloren. Deshalb ist es schön, dass es sich bei „Nachthimmel mit Austrittswunden um eine zweisprachige Ausgabe handelt. Ich habe am Ende nur noch die englische Version gelesen.

 

Das war sie, meine Lektüre April 2020. Bleibt weiterhin gesund, verliert den Spaß am Lesen nicht. Ich hoffe, euch bald wieder im richtigen Leben, auf Lesungen, auf der Messe, wiederzusehen!

 

 

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