Ingo Schulze – Die rechtschaffenen Mörder

Es beginnt wie eine Novelle aus dem 19. Jahrhundert, ein wenig altmodisch, behäbig fast und märchenhaft. Doch damit narrt der Autor Ingo Schulze die Leser*innen seines neuen Romans „Die rechtschaffenen Mörder“ ganz gehörig.

„Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“

Und schon versinkt man als Leser*in in der konventionell-kunstvoll erzählten Geschichte. Das gut-bildungsbürgerliche Dresden des Stadtteils Blasewitz ist der Handlungsort. Zum ebenso gediegenen Loschwitz auf der anderen Flussseite führt die „Blaues Wunder“ genannte Elbbrücke, von der Anhöhe grüßt der Weiße Hirsch mit seinen aus Uwe Tellkamps Roman bekannten Villen. Hier in Blasewitz eröffnet der etwas verschrobene Norbert Paulini 1977 sein Antiquariat.

das Antiquariat als verwunschener ort

Der jenseits jeglichen Profitstrebens etablierte Hort von prächtigen Erstausgaben und seltenen Werken hochrangiger Dichter und Denker ist ein fast verwunschener Ort. Er befindet sich im oberen Stock der ehrwürdigen Villa Kate. Nur auf Klingeln erhält man Einlass in die Räumlichkeiten, die Norbert Paulini mit den Restbeständen des Antiquariats seiner früh verstorbenen Mutter, die der Vater nicht übers Herz gebracht hat zu veräußern, ausgestattet hat. Mit einem Fahrrad nebst Anhänger macht sich der rührige Buchliebhaber fortan auf Akquise. Ein Idyll, in das jeder bücherliebende Leser gerne eintaucht.

Immer mehr wird das „Antiquariat und Buchhandlung Dorothea Paulini, Inh. Norbert Paulini“ zum Treffpunkt von kritischen DDR-Bürgern und Dissidenten, da Paulini auch verbotene, zumindest schwer erhältliche Literatur anzubieten hat. Aus dieser Klientel entwickelt sich ein literarischer Salon, der sich jeden Samstag in den Räumen der Villa Kate trifft. Norbert Paulini wird zum hochgeschätzten Mittelpunkt des Zirkels, nennt sich gerne selbst „Prinz Vogelfrei“, nach einem Gedicht Friedrich Nietzsches, und ist eigentlich eher unpolitisch.

Es ist das gleiche ostdeutsche Bildungsbürgertum, das die Leser*innen schon bereits aus Uwe Tellkamps Dresden-Roman „Der Turm“ kennen, das sich hier bei Paulini versammelt. Einer davon ist der im ersten Teil des Buches noch sehr diskret auftauchende Ich-Erzähler. In zweiten Teil präsentiert er sich prominent als der Schriftsteller Schultze, der vermutlich den ersten, gerade gelesenen Teil über Norbert Paulini verfasst hat.

Das würde zumindest erklären, warum die zunächst voller Bewunderung und Wärme erzählte Geschichte zunehmend fahrig wird und auch der einst bewunderte Antiquar immer negativer rüberkommt.

antiquariat
Antiquariatsschild in Berlin-Schöneberg by Dirk Ingo Franke / CC BY-SA
Niedergang nach der Wende

Nach dem Zusammenbruch der DDR 1989 und der Wiedervereinigung verlieren nicht nur die Bücher generell, sondern vor allem antiquarische Bücher ihre Bedeutung und ihren Wert. Warum sollte man sich eine gebrauchte DDR-Ausgabe mit schlechtem Papier kaufen, wenn man in der West-Buchhandlung von einem Tag auf den anderen jeden gewünschten Titel bestellen kann. Generell sinken Bücher und Bildung, die im ehemaligen „Leseland DDR“ stets hochgehalten wurden, in der Nachwendezeit im Wert. Und mit ihnen Antiquar Norbert Paulini.

Mit seiner Buchhandlung lässt sich kein Geld mehr verdienen. Kurzfristig arbeitet er deshalb als Kassierer an einer Supermarktkasse. Später verschafft ihm eine Freundin einen Job als Nachtportier. Von seiner Frau, der Friseurin Viola, lässt er sich scheiden, nachdem bekannt wird, das diese Berichte für die Stasi verfasst hat. Im Gegensatz zu Norbert reüssiert sie mit ihrem Friseursalon. Norbert hingegen muss die Villa Kate verlassen und in die Sächsische Schweiz ausweichen, nachdem sich Alteigentümer aus dem Westen mit Wiedergutmachungsansprüchen gemeldet haben. Auch Sohn Julian macht Sorgen, er driftet politisch nach rechts ab. Den letzten Rest gibt ihm dann die Jahrhundertflut der Elbe im Jahr 2002, die große Teile seines Buchbestands vernichtet.

Ziemlich viel, was da auf den Romanhelden einprasselt. Alle diese Dinge sollen seinen Überdruss, seine Wut und die rechten Gedanken, ja vielleicht sogar die Motivation für rechte Gewalt, erklären, die ihm gegen Ende des ersten Teils zugeschrieben werden. Trotz allem kommen diese Ansichten recht unmotiviert und unvermittelt. Die Nähe zu Pegida wird für mich nicht überzeugend entwickelt.

Man könnte das direkt als Schwäche des Buches herausstreichen. Wäre da nicht die im zweiten Teil gewonnene Erkenntnis, dass Teil eins aus der Feder von Schriftsteller Schultze (nicht zu verwechseln mit Ingo Schulze) stammt.

metaebenen

Dieser hat ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu dem einst bewunderten und ihn fördernden Antiquar. Es geht da vor allem um eine Frau. Elisabeth, Lisa, Schultzes Geliebte, ist Norbert Paulini schon seit langem freundschaftlich sehr zugetan. Es offenbart sich, dass Schultze Eifersucht, Misstrauen, auch Rachegelüste treiben. Eine Tatsache, die die bisher gelesenen knapp 200 Seiten in einem etwas anderen Licht erscheinen lassen.

Dresden Blasewitz
Dresden Blasewitz Blaues Wunder  by Lupus in Saxonia / CC BY-SA via Wikimedia Commons

Überhaupt wurde in der Rezeption von „Die rechtschaffenen Mörder“ meiner Meinung nach zu viel Gewicht darauf gelegt, dass Ingo Schulze das Abgleiten ostdeutschen Bildungsbürgertums in rechtes Gedankengut thematisiere. Das trifft durchaus zu, macht aber nur einen sehr kleinen Teil des Buchs aus. Und wurde von mir eher als ein kleiner bissiger Kommentar auf die politischen Einschätzungen seines Kollegen Tellkamps gelesen.

Wie schreibt Ingo Schulze so schön: Es ist

„in unserer Welt schwer geworden, immer die Ursache für eine Wirkung zu finden.“

Schulze liefert bestimmt keine einfache Antworten à la „ die und die Rückschläge haben dazu geführt, dass Paulini auf politische Abwege geriet“. Oder: „Das Bildungsbürgertum war durch seinen zunehmenden Bedeutungsverlust anfällig für rechte Parolen.“

wer ist schultze?

Man kann sich über solche Thesen Gedanken machen, aber spätestens mit dem Perspektivwechsel im zweiten Teil rückt etwas ganz anderes in den Fokus. Wer ist dieser Schultze? Ingo Schulze gibt ihm das eine oder andere autobiografische Detail mit, beispielsweise die Tätigkeit bei einer Altenburger Zeitung. Aber auch damit will er die Leser*in wahrscheinlich narren. Schultze schreibt hier eher eine Art Rechenschaftsbericht über sein Verhältnis zu Norbert Paulini und für die Erzählung, die er über ihn geschrieben hat. Es deutet sich bereits an, dass Norbert Paulini und Lisa eines nicht ganz geklärten, gemeinsamen Todes gestorben sind.

Und spätestens im dritten Teil, den die Lektorin Schultzes verfasst, wird klar, dass es Ingo Schulze mit „Die rechtschaffenen Mörder“ nicht in erster Linie um einen Roman über die Verfasstheit der ostdeutschen Bevölkerung oder rechtsextreme Strömungen geht. Der Autor greift ganz gehörig in die Metafiktions-Kiste. Verunsicherung, Zweifel streuen, Leseerwartungen durcheinanderwirbeln, das ist hier Programm. Uneindeutigkeit und Satire sind die Mittel. Das wird nicht jeder Leser/jede Leserin goutieren. Ich habe mich gut und auf literarisch hohem Niveau unterhalten gefühlt. Und gewarnt hat Ingo Schulze bereits mit seinem vorangestellten Motto:

„Wer kann denn das Ende eines Buches auch nur erahnen, wenn er darangeht?“

zitiert er Vilém Flusser aus dessen „Die Geschichte des Teufels“. Vilém Flusser war ein Medienphilosoph und Kommunikationswissenschaftler, dessen zentrales Thema der Untergang der Schriftkultur war. Auch hier höre ich Ingo Schulze leise kichern.

 

Auf Petras Bücherapotheke könnt ihr eine weitere (negativere) Meinung zum Buch nachlesen.

Beitragsbild von Birgit Böllinger via Pixabay (Vielen Dank Birgit!)

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Ingo Schulze - Die rechtschaffenen Mörder.

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Ingo Schulze – Die rechtschaffenen Mörder 
S. FISCHER März 2020, 320 Seiten, gebunden, € 21,00

6 Gedanken zu „Ingo Schulze – Die rechtschaffenen Mörder

  1. Na, ich hab gleich nach der Lektüre wiederangefangen Fontane zu lesen, auch Heinz Czechowski – „Sanft gehen wie Tiere, die Berge neben dem Fluss“) hab ich mir besorgt und mit Begeisterung gelesen, als Lyrik – Fan. Dafür bin ich dem Ingo Schulze schon sehr dankbar, die Lektüre hat sich auf alle Fälle für mich gelohnt…

  2. Vorab: Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern auf NdrKultur gehört. Den ersten Teil fand ich noch ganz gut, die darauffolgenden allerdings anstrengend bis nahezu unerträglich. Ich habe das Buch nur wegen der überwiegend guten Rezensionen zu Ende gehört. Als geborene Hamburgerin, aber seit 1991 in MV lebend kann ich mit der sog. Wendeliteratur immer noch nichts anfangen, mit der Nabelschau, den Klischees und der häufig wenig guten Diktion. Auch wenn letzteres nicht auf dieses Buch zutrifft, habe ich kein Lesevergnügen empfunden. Für mich ist das Buch ein typisch deutscher, gewollter Bildungsroman, der die Güte der internationalen, zumindest der anglo-amerikanischen, italienischen und französischen literary fiction vermissen läßt.

    1. Es gibt durchaus geteilte Meinungen zum Buch. Ich denke, ein typischer Wenderoman ist es gerade nicht. Mit den von dir genannten (und von mir auch hochgeschätzten) Literaturtraditionen hat er auch eher wenig zu tun. Süffiges Lesen bietet tatsächlich nur der erste Teil. Teil 2 und 3 unterlaufen das bewusst. Das muss man nicht mögen, ich fand es sehr interessant und das Buch insgesamt bereichernd. Ich glaube, von Güte kann man da nicht sprechen, eher von Gefallen – oder aber nicht. Danke für deinen Kommentar, viele Grüße!

  3. Seine Erzählungen habe ich gern gelesen, an den Roman traue ich mich noch nicht richtig ran. Auch wenn Deine Besprechung (mitsamt dem tollen Bild 🙂 ) sehr differenziert ist und ihn mir eigentlich wieder schmackhaft macht. Im Grunde mag ich es ja sehr, wenn einer die satirischen Untertöne beherrscht…

    1. Liebe Birgit, ja das Bild und seine Urheberin sind mir gleich ins Auge gestochen 😉 Danke! In der Presse wird mir zu sehr auf die rechte Gesinnung des späten Paulini abgehoben. Das kommt natürlich auch vor, aber für mich war das Buch eher ein Spiel mit der Leserin, die sich so schön in der konventionellen Bildungsbürger-Bücher-Geschichte eingerichtet hat. Und dann wurde das vom Autor durcheinandergewirbelt. Ich fand es sehr interessant und amüsant. LG

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