Éric Vuillard ist ein Meister der Verknappung von historischem Material. Seine eigentlich nie die 150 Seiten übersteigenden Bücher behandeln alle charakteristische Momente in der Historie und verdichten sie extrem. Der Autor wählt oft einen originellen Blickwinkel und schafft dadurch trotz der Kürze eine sehr bereichernde und universelle Sicht, ein vergegenwärtigendes historisches Erzählen. Doch was in „Die Tagesordnung“ und auch „14.Juli“ mit den Vorbedingungen des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der Französischen Revolution fulminant funktionierte, will Éric Vuillard mit „Der Krieg der Armen“ nicht recht gelingen.
der Deutsche bauernkrieg
Diesmal wählt der Autor ein sehr weit zurückliegendes historisches Geschehen zum Gegenstand, den Deutschen Bauernkrieg, der als eine Reihe von sowohl ökonomisch als auch religiös begründeten Aufständen und Erhebungen 1524 bis 1526 vor allem in Süddeutschland und Thüringen tobte. Vor allem Bauern, aber auch städtische Handwerker und Bergleute rebellierten gegen die Obrigkeit. Und gegen immer neue Steuern und Abgaben, die die Bevölkerung drückten. Gleichzeitig verbreiteten sich die Gedanken der Reformation. Nicht nur Martin Luther verurteilte, dass in der Kirche erhebliche Missstände herrschten. Viele Geistliche profitierten von Stiftungen und Erbschaften und Ablasszahlungen der reichen Bevölkerung sowie Abgaben und Spenden der Armen und führten ein ausschweifendes Leben.
Éric Vuillard stellt Thomas Müntzer in eine Reihe mit John Wyclif, der im 14. Jahrhundert die Armut der Kirche und die Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen forderte, und Jan Hus, der zu Beginn des 15. Jahrhunderts das Gleiche in Böhmen tat. Müntzer, der Pfarrer in der Marienkirche im thüringischen Mühlhausen war, ging aber noch einen Schritt weiter. Anfangs ein Anhänger Martin Luthers, radikalisierte er sich später, trat für die gewaltsame Befreiung der Bauern ein und machte sich vor allem auch die weltlichen Herren zu Feinden. Er war ein Polemiker und, das schildert Éric Vuillard deutlich, nahm kein Blatt vor den Mund. Im Mai 1525 wurde er bei der Schlacht von Frankenhausen gefangen genommen, gefoltert und enthauptet. Sein Leichnam wurde aufgespießt.
skizzenhaft
Éric Vuillard wählt wieder aus dem historischen Geschehen einzelne Episoden aus und konzentriert sie. Detaillierte Schilderungen oder Erklärungen des historischen Gesamtzusammenhangs darf man bei ihm nicht erwarten. Seine Auswahl ist wie immer sehr subjektiv. Durch die Wahl des historischen Präsens erreicht er eine enorme Unmittelbarkeit. Das ist ihm wichtig, geht es Vuillard doch auch immer um den Bezug des Geschehens auf die Gegenwart. Und so darf man vermuten, dass ihm, wie bei „14. Juli“ auch, hier ein wenig die sozialen Aufstände in Frankreich im Rahmen der Gelbwestenbewegung im Kopf rumorten, die er zwar nicht so vehement wie beispielsweise sein Kollege Édouard Louis, aber auch entschieden unterstützt.
Meiner Meinung nach ist ihm die pointierte und doch aufs Ganze hin öffnende historische Erzählung diesmal nicht ganz gelungen. Vielleicht ist es dem noch einmal reduzierten Umfang (gerade mal 64 Seiten) geschuldet, vielleicht dem zeitlich doch etwas weiter entfernten Sujet – der berühmte Funke will nicht überspringen. Das Geschehen bleibt so blass und zusammenhanglos wie die Person Thomas Müntzers, über den man kaum etwas erfährt. „Der Krieg der Armen“ erscheint wie eine Skizze von Éric Vuillard, die noch fertiggestellt werden muss. Es sind durchaus gute Stellen enthalten, der Stil unverkennbar, der verhaltene ironische Witz, wenn auch deutlich weniger als in anderen Werken, vorhanden. Kann man lesen. Wenn man Vuillard mag, sollte man das auch tun. Wer Éric Vuillard noch nicht kennt, sollte aber lieber zu „Die Tagesordnung“, „Kongo“, „14.Juli“ oder „Die Ballade vom Abendland“ greifen.
Beitragsbild: Bundschuhfahne Holzschnitt 1539 Petrarcas Trostspiegel, User Rosenzweig on de.wikipedia / Public domain via Wikimedia Commons
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Éric Vuillard – Der Krieg der Armen
Übersetzung: Nicola Denis
Matthes & Seitz März 2020, 64 Seiten, Gebunden, 16,00 €
Ich nehme den Hinweis auf den mir bisher unbekannten Autor dankend an.
Grüße Neustrelitz
Sehr gerne! Und vielen Dank für die vielen Anmerkungen. Ich werde sie in einer ruhigeren Stunde alle nachlesen. Viele Grüße, Petra