Lutz Seiler – Stern 111

2014 erhielt er für seinen Roman Kruso den Deutschen Buchpreis. Nun erschien von Lutz Seiler Stern 111, der den zur Zeit des Zusammenbruchs der DDR auf der kleinen Insel Hiddensee spielenden Vorgänger zwar nicht fortsetzt, aber an bestimmte Punkte anknüpft und einen Teil des Personals wiederauftauchen lässt.

Im Mittelpunkt der mit der Maueröffnung im November 1989 beginnenden Handlung steht Carl Bischoff. Der wie der Autor 1963 geborene gelernte Maurer und jetzige Student in Halle, dessen Herz für das Schreiben schlägt, wird von seinen Eltern Inge und Walter ins Elternhaus nach Gera zurückgerufen. Dringende Angelegenheit!

Schon im Bahnhof Leipzig strömen ihm die Menschen entgegen. Alles will in die Gegenrichtung, nach Berlin. Die Mauer ist seit kurzer Zeit geöffnet und auch die Eltern wollen zu Carls großer Verblüffung ausreisen. Waren die Beiden doch für ihn immer der Inbegriff einer spießigen, in gewohnten Bahnen laufenden Existenz in Gera-Langenberg und nun kann es nicht schnell genug fort gehen. Rüber in den Westen und zwar schnell, nachher überlegen es sich die hohen Herren sonst noch anders. Und schließlich gilt es, einen alten Traum zu verwirklichen. Welcher das ist, wird Carl und mit ihm die Leser*in erst am Ende erfahren.

allein in gera

Zunächst bleibt Carl verblüfft zurück. Er soll die Wohnung hüten, nach dem Rechten schauen. Sehr bald wird ihm das aber zu blöd und er schnappt sich Vaters Shiguli/Lada – weiß mit orangem Dach und Seitenstreifen – und fährt nach Berlin. Er will auch ein Stück der neuen Freiheit abbekommen. Berlin ist für ihn ein Sehnsuchtsort, Stadt der Literatur, der Poesie. Eher zufällig landet er in der Linienstraße in Berlin Mitte, am Rande des Prenzlauer Bergs und wohnt zunächst im Auto. Auch ganz zufällig steigt Carl ins Geschäft der Schwarztaxis ein und verdient sich so ein (eher mageres) Auskommen. Der einbrechende Winter macht dem Ganzen ein Ende, Carl bricht in der nahegelegenen Kneipe Jojo mit hohem Fieber zusammen.

Mainzer Straße-6-Juni1990
Mainzer Straße-6-Juni1990  by Renate Hildebrandt http://www.renate-hildebrandt.de/ / CC BY  via Wikimedia Commons
das rudel

Die Leute, die sich um ihn kümmern und ihn gesund pflegen werden zu seinem neuen „Rudel“. Es ist eine Gruppe Kreativer und Aussteiger, die um den charismatischen Hoffi, auch „der Hirte“ genannt, und seine Ziege Dodo die in der DDR bekannte Form der „stillen Besetzung“ von Wohnraum in etwas lauterer Form in Berlin Mitte und Prenzlauer Berg umsetzen. Leerstehende Wohnungen werden aufgespürt und stillschweigend bezogen. Der Werkzeugklau von Berliner Baustellen und der Unterhalt von Szenekneipen verschaffen ihnen ein wenig Geld. Neuestes Projekt ist die „Assel“ in der Oranienburger Straße. Hier packt auch Carl als gelernter Maurer mit an, Hoffi verschafft ihm eine Wohnung in der Rykestraße. Der dortige Wasserturm wird sein treuer Nachbar. Das bisher so graue, kalte, abweisende Berlin gibt dem „verlassenen Kind“ Carl so etwas wie eine neue Heimat. Hier in der Besetzerszene Ost werden Utopien von Gleichheit und Selbstverwaltung gelebt und gegen die „von drüben“ verteidigt. Gegen Westberliner Besatzer genauso wie gegen Alteigentümer und Investoren. Genug Wohnraum steht frei, oft genug noch möbliert, weil die Bewohner „nach drüben“ sind. Es ist eine Zeit des Übergangs, der Anarchie, der Aufbruchsstimmung, alles scheint möglich, aber auch die Unsicherheit ist groß.

Zufällig trifft Carl in Berlin auch seine alte Jugendliebe Effi wieder und eine Beziehung zu ihr scheint möglich. Aber da ist noch ihr Sohn Freddy und dessen Vater Rico und eine Altlast, die sie mit sich herumschleppt.

Wasserturm Berlin
Wasserturm Berlin  by Kvikk / CC BY-SA via Wikimedia Commons
carls eltern

Parallel zu Carls Leben im Nachwende-Berlin wird der Weg von Inge und Walter verfolgt. Dieser führt über das Notaufnahmelager Gießen nach Diez und Gelnhausen. Walter schlägt sich mit Computerkursen ganz gut durch, Inge nimmt Putzstellen an. Die Widerstände, die ihnen als „Ostlern“ entgegenschlagen, sind zwar weit bekannt, werden aber selten so genau und eindrücklich beschrieben.

Durch den Perspektivwechsel von Carl zu seinen Eltern erhält der Roman seine Spannung. Die grüblerische Selbstbetrachtung des weitgehend passiven Carls könnte sonst unter Umständen ein bisschen langatmig werden. Die Odyssee der zupackenden Eltern bildet dazu einen schönen Kontrast. So lässt Lutz Seiler in Stern 111, wie übrigens ein DDR-Kofferradio bezeichnet war, ein dichtes Zeitbild entstehen, aus einer Umbruchszeit, die zwar schon oft thematisiert wurde, der der Autor hier aber nochmal neue Seiten abgewinnt.

Lutz Seiler schreibt über die leicht schrägen Typen, die oft reale Vorbilder haben (nicht zuletzt teilt Carl eine ganze Reihe autobiografischer Details mit dem Autor), über die Szeneorte und die kreative Aufbruchsstimmung mit viel Wärme und Zuneigung, lässt daraus aber keine Nostalgie oder gar Ostalgie entstehen.

Im März bekam Lutz Seiler für Stern 111 unter den eingeschränkten Bedingungen dieses Corona-Jahres den Preis der Leipziger Buchmesse verliehen. Sehr verdient.

 

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Beitragsbild: Kombinat VEB Stern-Radio by Sebastian Wallroth, Wikimedia Commons / CC BY 

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Lutz Seiler - Stern 111.

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Lutz Seiler – Stern 111

Suhrkamp März 2020, Gebunden, 528 Seiten, € 24,00

5 Gedanken zu „Lutz Seiler – Stern 111

  1. Für mich ist das Mystische des Romans einfach des Guten zu viel – mir gefallen vor allem die Geschichte der Eltern, gerade weil sie „normaler“ erzählt wird, während Carls Erlebnisse in Berlin oft zu sprunghaft und ohne richtigen Zusammenhang geschildert werden. „Kruso“ habe ich nach ungefähr 100 Seiten aufgegeben, fertig zu lesen – „Stern 111“ habe ich mich durchgekämpft, aber meine Begeisterung hielt sich in Grenzen – leider . . .

  2. Liebe Petra,
    Seiler liegt gleich neben Russo auf dem Sommerferienlesestapel :-). (Da hast du ja den zweiten Volltreffer gelandet.) Und nehme nun neben den vielen positiven Eindrücken auch noch Birgits Einwände mit in meine Lektüre. Ich habe gerade den Podcast eines Interviews in SWR 2 mit Lutz Seiler gehört, in dem er schon von der schwebenden Ziege berichtete. Ich bin gespannt, ob ich mein Herz an sie verliere oder ob sie mir auch ein bisschen fremd bleibt.
    Viele Grüße, Claudia

    1. Liebe Claudia, Birgits Einwände sind durchaus berechtigt. Die Ziege mochte ich aber (sie schwebt auch nur kurz und trägt sonst eine coole Schweißerbrille 😉 ). Anderes habe ich bei meinem sehr positiven Gesamteindruck auch einfach weggedrückt. Bin gespannt, wie du am ende urteilen wirst. LG, Petra

  3. Liebe Petra,
    ich habe den Roman gestern zu Ende gelesen und mit einer Mischung aus Wohlgefallen und Enttäuschung zugeklappt. Wohlgefallen, weil sprachlich klasse und vor allem diese Mischung aus Entwicklungs- und Künstler- und Liebesroman sehr gelungen ist.
    Aber manchmal glitt er mir zu sehr ins Mystische ab – die schwebende Ziege, der dahinschwindende Hoffi, das war mir eine Spur zuviel des Raunend-Geheimnisvollen…

    Schönes Wochenende wünscht Birgit

    1. Recht hast du, liebe Birgit. Diese Stellen waren etwas komisch. Aber genau so habe ich sie genommen und in der Hoffnung, der Autor meint sie nicht so ernst, über sie hinweg gelesen. Mit einer Ausnahme, und interessanterweise habe ich das beim Verfassen meiner Besprechung ganz vergessen und fiel mir erst jetzt bei deinem Kommentar ein: das „Dahinschwinden“ von Hoffi im Stroh fand ich auch ein wenig too much. Aber es liegt wohl am Themen- und Motivreichtum des Romans, dass man sich immer bestimmte Gesichtspunkte herauspickt. (Interessanterweise habe ich auch in keiner Kritik etwas über diesen Punkt gelesen). Dir auch ein schönes Wochenende, Petra

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