Marina Frenk – ewig her und gar nicht wahr

Die 1986 geborene Marina Frenk hat mit „ewig her und gar nicht wahr“ einen bemerkenswerten Debütroman über Entwurzelung, Suche und Selbstvergewisserung geschrieben.

Basis ist die bildende Künstlerin Kira Libermann, Altersgenossin und sicher in einigen Bereichen Alter Ego der Autorin. Beide sind in der damaligen Sowjetrepublik Moldawien geboren und als Kind 1993 mit den Eltern nach Deutschland emigriert.

Kira lebt mit ihrem vierjährigen Sohn Karl und dessen Vater, dem Journalisten Marc, in Berlin. Die Beziehung der beiden steckt schon länger in der Krise, sie leben nur noch nebeneinander her, Karl zuliebe. Kira gibt Malkurse für Kinder. Ihre eigene Kunstproduktion liegt nach anfänglichem Erfolg schon seit geraumer Zeit auf Eis. Sie steckt in einer persönlichen Krise, fühlt sich isoliert, allein gelassen. Die Depression hängt über ihr, der Gedanke an Selbstmord – aber Karl braucht sie doch. Um zu spüren, „wo ich aufhöre“, verletzt sich Kira immer wieder selbst, fügt sich Brandwunden mit Zigaretten zu.

vergangenheit

Die Gedanken von Kira springen immer wieder in ihre Vergangenheit zurück. In die Kindheit, als sie 1993 mit den Eltern im mit ihren Habseligkeiten vollgestopften Lada Richtung Westen aufbrachen. Ins Jahr 2005, als sie in Köln ihre Freundin Nele kennenlernte. 2007, als sie eine Fehlgeburt erlitt, von der der Vater, ihr damaliger Freund Theodor gar nichts wusste. Sie erinnert sich an Reisen zur Tante nach New York, zur Großmutter nach Haifa – ihre in alle Teile der Welt versprengte russisch-jüdische Familie. Und sie denkt an die innige Zeit mit Marc, als sie schwanger war, einen gemeinsamen Urlaub auf Hiddensee.

Marina Frenk kontrastiert in „ewig her und gar nicht wahr“ diese persönlichen Erinnerungen der Ich-Erzählerin mit weit zurückliegenden Episoden aus ihrer Familiengeschichte. 1941 wird der kleine Aaron, der einmal ihr Großvater werden sollte, mit seiner Familie von den Russen vor den heranrückenden Rumänen evakuiert. Seine alte Großmutter Bina bleibt genauso zurück wie das Hündchen Schmulik, er wird beide nicht wiedersehen. 1948 trifft er in Chisinau auf die damals 17jährige Sarah, beider Sohn Wenja ist Kiras Vater. Aaron und Sarah werden ihr Alter in Haifa verleben.

Chisinau
Railway Station in Chişinău, Moldova picture by User:Markv via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Kiras Mutter Lena ist die Tochter von Jurij und Nastja. Durch den Soldatenberuf des Vaters ist ihr Leben geprägt von Ortswechseln. Tadschikistan, das weit im Osten, an der Grenze zu China liegende Chabarowsk und eben Chisinau in Moldawien sind Stationen.

entwurzelung

Das Leben der Familie ist geprägt von Entwurzelung. Kriege, Verfolgung, Suche nach besseren Chancen haben die Vorfahren über die halbe Welt verstreut. Und auch Kira ist das Gefühl nicht unbekannt. Auch sie spürt eine Unbehaustheit, eine tiefe Einsamkeit in sich selbst. Selbstzweifel plagen sie, stets ist sie auf der Suche nach Selbstvergewisserung. Was ihr nicht immer gelingt, dann greift sie zu einer glühenden Zigarette. Symptomatisch ist die Eingangsszene des Buchs. Kira erinnert sich an einen Sommer am Schwarzen Meer, an eine Strandszene, in der sie als Fünfjährige ihre Eltern verloren hat. Das Gefühl des Verlorengehens hat sie offensichtlich nie ganz verloren.

Zu solchen Erinnerungen und Rückblenden in der Familiengeschichten gesellen sich zahlreiche Träume und Halluzinationen Kiras. Solche Traumsequenzen gelingen selten, vor allem, wenn dieses Stilmittel zu häufig verwendet wird. Und auch hier sind das die Abschnitte des Romans, die ich am schwächsten finde.

Generell sind diejenigen der insgesamt 36 meist kürzeren Kapitel am gelungensten, die in die nähere oder fernere Vergangenheit führen. Da gelingen Marina Frenk poetische, eindringliche Passagen. In der Gegenwart ist die zerquälte Selbstbespiegelung der Ich-Erzählerin Kira sicher ihrer Depression geschuldet, macht es der Leser*in aber nicht allzu einfach.

Insgesamt gesehen ist „ewig her und gar nicht wahr“ von Marina Frank ein sehr gelungenes, überzeugendes Debüt, das eindringlich die Folgen der Entwurzelung auch auf nachfolgende Generationen spürbar macht. Und damit eine deutliche Leseempfehlung!

 

Beitragsbild: Straße in Moldawien von osoian-marcel auf Pixabay

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Marina Frenk ewig her und gar nicht wahr.

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Marina Frenk – ewig her und gar nicht wahr
Wagenbach Quartbuch  2020, 240 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag, 22,– €

3 Gedanken zu „Marina Frenk – ewig her und gar nicht wahr

  1. Pingback: [ Mikka liest das Leben ] [ Das Köfferchen ] Besuchte Buchblogs #11 2020
  2. Hallo,

    Romane, die halbe Autobiographien sind, können in meinen Augen wunderbar funktionieren oder aber manchmal auch gar nicht, aber dieser hier klingt wirklich sehr interessant.

    Mit Traumsequenzen stehe ich meist auf dem Kriegfuß – da muss ein Autor oder eine Autorin schon viel Meisterschaft anwenden, damit es gelingt!

    Das Buch kommt direkt mal auf die Wunschliste.

    LG,
    Mikka

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