Meine Lektüre im Juni 2020 – acht durchweg lesenswerte Romane, davon drei deutschsprachige Debüts
Einige spannende Projekte galt es im Juni 2020 abzuschließen, was meine Lektüre zeitweise ein wenig verlangsamt hat. Auf einem Debütroman, der im kommenden Herbst veröffentlicht wird, erscheint mein erster „Blurb“. Für die Mitte Juli anlaufende Literaturverfilmung „Berlin Alexanderplatz“ durfte ich bereits im März im Kino sitzen und nun einen ausführlichen Bericht dazu schreiben. Und im Herbstheft der Büchergilde Gutenberg und im Augustheft des BuchMarkts erscheinen Beiträge von mir.
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Aber nun zurück zur Lektüre im Juni 2020
Richard Russo – Jenseits der Erwartungen
Drei Freunde treffen sich nach fast vierzig Jahren wieder auf Martha´s Vineyard. Lincoln besitzt hier ein Haus aus dem Erbe seiner Mutter. Nun denkt er über den Verkauf nach, denn die Finanz- und Immobilienkrise von 2008 ist an ihm zwar recht glimpflich, aber doch nicht spurlos vorbeigegangen.
1971 verbrachten sie den letzten von vielen Sommern dort, zusammen mit Jacy, der Kommilitonin, in die sie alle ein wenig verliebt waren. Jacy verschwand damals ohne ein Wort und tauchte auch niemals wieder auf.
Ein wenig Krimispannung wird dadurch aufgebaut, dass das Geheimnis dieses Verschwindens erst am Ende aufgeklärt wird. Viel wichtiger sind aber die Fragen, die Richard Russo über das Leben im Allgemeinen stellt. „Chances are…“ heißt das Buch im Original nach einem etwas rührseligen Song von Johnny Mathis aus dem Jahr 1957. Welche Chancen bietet uns das Leben? Wieviel Zufall steckt zum Beispiel darin, dass sich die drei jungen Männer aus ganz unterschiedlichen Ecken des Landes im College getroffen und angefreundet haben? Was bestimmt, welche Chancen wir ergreifen? Und rückblickend, was haben wir aus unserem Leben gemacht?
Ein stimmungsvolles, wie immer sehr menschenfreundliches und nachdenkliches Buch aus der Feder des großartigen Richard Russo.
Marina Frenk – ewig her und gar nicht wahr
Die 1986 geborene Marina Frenk hat mit „ewig her und gar nicht wahr“ einen bemerkenswerten Debütroman über Entwurzelung, Suche und Selbstvergewisserung geschrieben.
Protagonistin ist die bildende Künstlerin Kira Libermann, Altersgenossin und sicher in einigen Bereichen Alter Ego der Autorin. Beide sind in der damaligen Sowjetrepublik Moldawien geboren und als Kind 1993 mit den Eltern nach Deutschland emigriert. Marina Frenk kontrastiert diese persönlichen Erinnerungen der Ich-Erzählerin mit weit zurückliegenden Episoden aus ihrer Familiengeschichte. Das Leben der Familie ist geprägt von Entwurzelung. Kriege, Verfolgung, Suche nach besseren Chancen haben die Vorfahren über die halbe Welt verstreut.
Generell sind diejenigen der insgesamt 36 meist kürzeren Kapitel am gelungensten, die in die nähere oder fernere Vergangenheit führen. Da gelingen Marina Frenk poetische, eindringliche Passagen. In der Gegenwart ist die zerquälte Selbstbespiegelung der Ich-Erzählerin Kira sicher ihrer Depression geschuldet, macht es der Leser*in aber nicht allzu einfach.
Insgesamt gesehen ist „ewig her und gar nicht wahr“ ein sehr gelungenes, überzeugendes Debüt, das eindringlich die Folgen der Entwurzelung auch auf nachfolgende Generationen spürbar macht. Und damit eine deutliche Leseempfehlung!
Theres Essmann – Federico Temperini
„Federico Temperini“ ist das Erzähldebüt der 1967 geborenen Theres Essmann. Und, um es vorweg zu nehmen, es ist ganz wunderbar gelungen.
Erzählt wird von Jürgen Krause. Das Studium an der Hochschule für Verwaltung abgebrochen, die Ehe mit Irene gescheitert, der Kontakt zum halbwüchsigen Sohn Leo eher so naja, fährt Jürgen seit mehr als 15 Jahren Taxi. In seiner Freizeit hängt er mit seinen Kumpels Klaus und Wolfgang in der griechischen Taverne von Maria ab. Auch wenn Maria waschechte Kölnerin ist, macht sie das beste Gyros weit und breit.
Aus diesem phlegmatischen, wenig beglückenden Dasein reißt Jürgen zu Beginn der Novelle ein Anruf. Ein Herr Federico Temperini wünscht einen Chauffeur, für gelegentliche Fahrten in die Philharmonie, auf den Friedhof Melaten oder auch mal an einen See. Hauptsächlich geht es aber zu Konzertbesuchen. Federico Temperini ist ein Liebhaber klassischer Musik, pflegt eine nahezu obsessive Liebe zum „Teufelsgeiger“ Niccolò Paganini, war wohl früher selbst einmal Geiger.
Und während sich Jürgen Krause und der elegante, alte Herr Temperini von Fahrt zu Fahrt näher kommen, der Fahrgast von der Rückbank auf den Beifahrersitz wechselt, erfahren wir so einiges aus dem Leben von Krause, kaum etwas von Temperini, aber sehr viel über klassische Musik und Niccolò Paganini. Und das völlig unangestrengt, fast schwebend. Das Vermittelte geht in der Musikalität der Novelle auf.
Behutsam, schnörkellos und tatsächlich in „feinster Erzählkunst“ erzählt Theres Essmann in „Federico Temperini“ von Vergänglichkeit, Genie und Einsamkeit, von Vater-Sohn-Beziehungen, gescheiterten Lebensentwürfen und dem Mut weiterzumachen. Sie lässt ihre Geschichte bittersüß enden. Ein schönes, ein erstaunlich gelungenes Debüt!
Commissario Brunetti ermittelt wieder. Diesmal im sommerlich-heißen Venedig, das an den Touristenmassen zu ersticken droht. Eine todkranke Frau bittet um die Untersuchung ihres vor kurzem bei einem Unfall gestorbenen Mannes. Der war mit der Kontrolle der Trinkwasserqualität in der Nähe der Lagunenstadt betraut. Steckt vielleicht doch ein Verbrechen hinter seinem Tod? Auch wenn die Kinder Chiara und Raffi diesmal ausgeflogen scheinen – alles wie immer. Und das ist das Schöne an den Brunetti-Büchern. Über all die Jahre und die sich rasend beschleunigende Welt bieten sie eine Konstante, ohne dabei trivial oder geistlos zu sein. Donna Leon bezieht in ihnen stets Stellung – für die Umwelt, für die Menschen in Venedig, gegen Korruption, Gier und rücksichtslosen Tourismus. Ich freue mich schon heute darauf, im nächsten Mai pünktlich wieder mit Donna Leon nach Venedig reisen zu können.
Jhumpa Lahiri – Wo ich mich finde
Jumpha Lahiri erzählt zum ersten Mal in italienischer Sprache. Sie begleitet eine Italienerin um die 40 in kleinen Alltagsszenen, in Splittern ihrer Existenz, in 46 kurzen Kapiteln. „Auf der Straße“, „in der Buchhandlung“, „im Schatten“ und immer wieder „im Stillen“ – „Wo ich mich finde“. Fraglich bleibt dabei, ob sich die Einzelgängerin überhaupt irgendwo selbst findet, sich selbst nahe kommt. Eine Handlung oder auch nur einen deutlichen Diskurs sollte man von diesem feingliedrigen, schwebenden Buch nicht erwarten. In ihrer kurzen und klaren Prosa, in ihrem gleichsam kühlen wie intensiven (Selbst)Beobachten erinnerte mich Jhumpa Lahiri mit Wo ich mich finde sehr an Texte von Rachel Cusk. Ihr Erzählen ist so melancholisch wie klaglos. Es unterscheidet sich sehr vom Ton ihres mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Erzählbands Melancholie der Ankunft und ihren bisherigen Romanen wie Tiefland. Mag sein, dass das vom Wechsel der Erzählsprache herrührt. Mich hat es sehr fasziniert.
Hubert Achleitner – flüchtig
Hubert Achleitner, der als „Alpenrocker“ Hubert von Goisern bekannt ist, hat mit flüchtig einen ersten Roman geschrieben. Man könnte das abtun als „schon wieder ein Promi, der sich als Schriftsteller versuchen will“. Aber die Worte und die Geschichten, die seine Lieder transportieren waren Hubert von Goisern schon immer wichtig. Und auch als Romanautor kann er damit umgehen. Sein Roman liest sich gut, hin und wieder, besonders bei Liebesszenen wird es etwas schwülstig, verrutschen Bilder, aber insgesamt ist der Roman sprachlich sehr solide. Dennoch ist die Geschichte von Herwig, dem pflichtbewussten Lehrer, der nach jahrzehntelanger, kinderloser Ehe mit der immer etwas distanziert bleibenden Eva Maria Magdalena eine Affäre mit der jungen Kollegin Nora beginnt und vielleicht sogar Vater wird, worauf Maria ausbricht und auf einem Trip nach Griechenland neue Erfahrungen sammelt, für mich nicht ganz gelungen. Etliche Male wollte ich ihn schon beiseite legen, klischeehafte (Beziehungs)Bilder nervten, die ewige Geschichte von Menschen in der Midlife-Krise, Menschen, mit denen man nicht immer mitgehen mag. Dann aber packte mich die Geschichte wieder und der letzte Teil in Griechenland hat mir wieder sehr gut gefallen. Unentschieden also für dieses Prosadebüt.
Charlotte Wood – Das Wochenende
Was von Cover und Titel als eher leichte Unterhaltung anmutet, entpuppt sich als psychologisch genaues, radikal ehrliches Porträt einer jahrzehntelangen Frauenfreundschaft und ein bitteres, aber auch immer wieder heiteres und sogar witziges Buch über das Alter. Die drei alten australischen Damen, die nach dem Tod der vierten Freundin deren Haus entrümpeln und ihre Beziehung zueinander und das eigene Leben dabei auf den Prüfstand stellen, hat mich sehr angenehm überrascht.
Anuradha Roy – Der Garten meiner Mutter
Eine große indische Familiengeschichte, die Geschichte eines verlassenen Kindes, der Kampf einer jungen Frau um Freiheit und Selbstverwirklichung, eine Geschichte Indiens von den 1930 er Jahren bis in die Gegenwart und ein Porträt des deutschen Künstlers Walter Spies, der seit 1923 in Indonesien lebte und 1942 durch die japanische Bombardierung eines Interniertenschiffs im indischen Ozean starb. Sehr schön, elegisch und poetisch erzählt von der indischen Schriftstellerin Anuradha Roy (nicht zu verwechseln mit Arundhati Roy).
Das war meine Lektüre im Juni 2020. Die meisten Frühjahrsneuerscheinungen auf meiner Leseliste sind nun gelesen. Nach und nach trudeln bereits die Herbstnovitäten herein. Man darf gespannt sein.