Seit 1992 liefert Donna Leon pünktlich jedes Jahr einen neuen Roman mit ihrem charismatischen venezianischen Commissario Guido Brunetti. Und auch wenn die Autorin der Lagunenstadt seit Jahren schon der Rücken gekehrt hat und in der Schweiz lebt, weiß sie doch immer noch deren ganz besondere Atmosphäre einzufangen. In seinem 29. Fall schickt Donna Leon Brunetti durch ein von Touristen überfülltes, brütend heißes, sommerliches Venedig auf der Suche nach „Geheime Quellen“.
Wie oft bei Donna Leon ist am Anfang gar nicht klar, ob es überhaupt ein Verbrechen gibt. Während Vize-Questore Patta wieder einmal nur um den Ruf der venezianischen Polizei, genauer gesagt um seinen eigenen Ruf bemüht ist, der durch das überaus effiziente Handeln zweier jugendlicher Taschendiebinnen gefährdet ist – sogar die Frau des Bürgermeisters wurde zu ihrem Opfer -, erreicht Brunetti ein Anruf aus dem Hospiz des Ospedale Fatebenefratelli.
Eine Frau liegt im Sterben
Die nicht einmal vierzig Jahre alte Benedetta Toso, Mutter von zwei Töchtern, liegt dort im Sterben und hat den Wunsch geäußert, dringend mit der Polizei sprechen zu wollen. Brunetti fährt mit seiner Kollegin Claudia Griffoni zu ihr und erfährt, dass ihr Mann vor zwei Wochen tödlich mit dem Motorrad verunglückt ist. Die völlig entkräftete Frau spricht von „schlechtem Geld“ und von „Ergebnissen“, die er genommen habe, dass „sie“ ihn getötet haben.
Auch wenn nichts für ein Fremdverschulden spricht, sogar Hinweise auf einen möglichen Selbstmord auftauchen, erkundigen sich Brunetti, Griffoni und Ispettore Vianello im Umfeld des Mannes. Vittorio Fadalto war im Labor einer Trinkwasserfirma beschäftigt und dort für die Kontrolle und Wartung von Sensoren für die Wasserqualität zuständig. „Trace elements“, Spurenelemente, so der Originaltitel.
Wie immer geht es bei Donna Leon in ihrem routiniert gebauten Krimi weniger um den Kriminalfall selbst, als um die Gesellschaft, in der er stattfindet. Der Fall wird gelöst, aber die wahren Verbrechen liegen anderswo. Es sind die unsauberen Geschäfte, die Geltungs- und Geldgier der Menschen, ihr rücksichtsloser Umgang mit der Umwelt, die Korruption, die die Gesellschaft aushöhlen.
Die Serenissima
Wie immer ist es auch die Stadt Venedig, die im Mittelpunkt des Romans steht. Ihre morbide Schönheit, ihre alte, zerbröckelnde Würde, die tagtäglich Horden von Touristen überrollen. Das liest sich im Coronajahr tatsächlich ein wenig anders als zuvor. Und ich habe gelesen, dass Donna Leon den Nachfolger von Geheime Quellen tatsächlich daraufhin umgeschrieben hat, quasi auf „den neuesten Stand gebracht“.
Im aktuellen Fall quält sich Commissario Brunetti über den glühenden Riva degli Schiavoni, über die von Menschen verstopften Brücken und in den entweder un- oder aber überklimatisierten Büros. Die Leserin freut sich mit ihm über die kalte Dusche, das leckere Essen mit Paola auf der idyllischen Dachterrasse und seine Lektüre in den Werken der alten Griechen. Auch wenn die Kinder Chiara und Raffi diesmal ausgeflogen scheinen – alles wie immer. Und das ist das Schöne an den Brunetti-Büchern. Über all die Jahre und die sich rasend beschleunigende Welt bieten sie eine Konstante, ohne dabei trivial oder geistlos zu sein. Donna Leon bezieht in ihnen stets Stellung – für die Umwelt, für die Menschen in Venedig, gegen Korruption, Gier und rücksichtslosen Tourismus.
Ich freue mich schon heute darauf, im nächsten Mai pünktlich wieder mit Donna Leon nach Venedig reisen zu können. Und hoffentlich bald darauf auch wieder „in echt“.
Weitere Titel von Donna Leon auf LiteraturReich:
Donna Leon – Ein Sohn ist uns gegeben Commissario Brunettis achtundzwanzigster Fall
Donna Leon – Heimliche Versuchung
Beitragsbild von Mike Palmer auf Pixabay
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Donna Leon – Geheime Quellen
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Diogenes Juni 2020, 320 Seiten, Hardcover Leinen, € 24,00
Es war in diesem Fall nun mal eine Leserin, nämlich ich. 😉
Frage: Hättest du das Gendern auch angemahnt, wenn ich „der Leser“ geschrieben hätte?
Weshalb „die Leserin „?
Du hast mich überzeugt. Ich werde mir den ersten Band mal bei der nächsten Lieferung mitbestellen. 🙂
Ich muss ja gestehen – ich habe noch nie einen Brunetti-Krimi gelesen. Und die Verfilmungen haben jetzt auch nicht dazu beitragen, an dieser Tatsache etwas zu ändern. Aber wenn ich Deine tolle Rezension so lese, sollte ich mir vllt. doch irgendwann mal – zumindest für einen Band – einen Ruck geben.
Schönes WE noch und LG aus der kriminellen Gasse
Stefan
Die Verfilmungen sind wirklich Schrott. Das darf man nicht den Krimis anlasten. Aber tatsächlich hängt meine Brunetti Liebe zum Großen Teil daran, dass ich vom 1. Fall an alle Jahre dabei war. Das ist der Serieneffekt. Und ich darf nicht verschweigen, dass ich zwischendurch, so um Fall 18+ auch mal ein paar Jahre pausiert habe, da es mir dann doch zu ausgelutscht war. Seit einigen Jahren ist entweder Donna Leon wieder besser geworden, oder ich älter 😉 Ich finde die Bücher wieder große Klasse. Als Leon 1992 anfing, gab es noch keine „Urlaubs“Krimis oder gar Regionalkrimis, da war sie mit wenigen anderen vorne dran und die ersten Bücher sind auch wirklich sehr gut. Versuchs einfach mal! LG und auch ein schönes Wochenende! Petra