Eine junge Frau ist zum zweiten Mal schwanger. Und während sie die zunehmende Entfernung von ihrer kleinen Erstgeborenen durch deren Größerwerden zugleich bestaunt und betrauert, erinnert sie sich an Zeiten der Erschütterung. Damals, als sie sich die Frage stellen musste: Will ich überhaupt ein Kind? Kann ich die Verantwortung für es übernehmen, kann ich es so lieben, wie eine Mutter ihr Kind lieben muss? Oder damals, als ihre Mutter starb, sie gerade mal Anfang Zwanzig war. Zeiten, in denen die Ich-Erzählerin in Was wir voneinander wissen von Jessie Greengrass nach Antworten suchte, nach Erkenntnis, nach Zusammenhängen.
Vor ihrer ersten Schwangerschaft: Die Ich-Erzählerin ringt mit sich, aber nicht, weil sie denkt, dass ein Kind ihr Leben umkrempeln, ihre Freiheit beschneiden würde. Diese Fragen stellt sie sich nicht. Sie zaudert, weil sie sich nicht vorstellen kann, eine ausreichend gute Mutter zu sein.
Mutter – Tochter – Großmutter
Diese Gedanken kommen sicher auch von den problematischen Beziehungen, die einerseits sie zu ihrer Mutter und andererseits diese zur Großmutter hatten. Beide zogen ihrer Töchter, Einzelkinder, ohne Vater groß. Die leicht exzentrische, kühle Großmutter führte eine Psychoanalysepraxis in London-Hampstead. Schon als kleines Kind analysierte sie ihre Tochter und deren Träume, bis diese sich nicht mehr zu träumen getraute. Kritisch-distanziert blieb das Verhältnis der Beiden zeitlebens.
Auch der Mutter der Erzählerin gelang es nicht, eine warme, herzliche Verbindung zu ihrer Tochter aufzubauen. Erst als sie an Krebs erkrankte und bis zu ihrem Tod von der damals 21jährigen gepflegt wurde, entstand so etwas wie Wärme zwischen ihnen. Die Ich-Erzählerin erinnert sich an diese Zeit und auch an eigene Versäumnisse, wie froh sie war, der Kranken und dem Londoner Vorort, in dem diese wohnte, immer wieder zu entkommen. Die Abschnitte, die vom Sterben der Mutter handeln, sind äußerst intensiv, ehrlich und ganz ohne Pathos geschrieben.
Nach dem Tod der Mutter verkroch sich die Ich-Erzählerin immer wieder in der Bibliothek der Wellcome Collection in London, las sich durch wissenschaftliche Werke, besuchte die medizinischen Sammlungen. Sie war auf der Suche nach Erkenntnis, nach einem Muster, etwas, das ihrem Leben wieder Struktur und Zusammenhang geben konnte. Dabei stieß sie auf Menschen, die in der Vergangenheit auf die eine oder andere Art und Weise Einblick in das Leben suchten und fanden. Sight ist auch der Originaltitel des Buchs.
Einblicke
Das konnten die Brüder Lumière sein, die 1895 den Cinématographe einführten und damit Augenblicke festhielten, oder Wilhelm Conrad Röntgen, der zur gleichen Zeit die Röntgenstrahlen entdeckte und damit Körper durchleuchten konnte. Oder der schottische Anatom und Mediziner John Hunter, der im 18. Jahrhundert eine Sammlung menschlicher Präparate anlegte und so einen Blick in den Körper ermöglichte. Oder der Maler und Kupferstecher Jan van Rymsdyk, der diese Präparate abbildete und verewigte.
Der Verknüpfung der Gedanken und des Ringens der Ich-Erzählerin mit diesen historischen Personen und ihren Leistungen ist nicht immer zwingend. Für mich bestand eher wenig nachvollziehbare Verbindung. In seiner abschweifenden, mäandernden Erzählweise ist das Buch stark essayistisch und erinnert mich sehr an die Bücher von Rachel Cusk oder auch an das noch stärker fragmentarische Unrast von Olga Tokarczuk.
Am dichtesten und überzeugendsten gelingt die Gegenüberstellung mit dem Verhältnis von Sigmund Freud zu seiner Tochter Anna. Vielleicht, weil die Großmutter, Dr.K., auch Psychoanalytikerin war.
Ich bin den nachdenklichen, sprachlich sehr feinen Ausführungen der 1982 geborenen studierten Philosophin Jessie Greengrass in Was wir voneinander wissen sehr gern gefolgt. Sie sind klug, bereichernd und brillant formuliert. Sie enden mit der Geburt des zweiten Kindes. Einen Roman würde ich das Buch allerdings nicht nennen.
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Beitragsbild: Study with the couch, Freud Museum London by Zde / CC BY-SA via Wikimedia commons
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Jessie Greengrass
Übersetzt von: Andrea O’Brien
Kiepenheuer&Witsch Mai 2020, gebunden, 224 Seiten, € 20,00