Common Ground – Literatur aus Südosteuropa

Literatur aus Südosteuropa ist für viele Leser*innen, unter anderem auch für mich, relatives Neuland. Eine Handvoll Autor*innen fallen einem da vielleicht ein, Ismail Kadare aus Albanien; der in Bosnien-Herzegowina geborene und in Serbien verstorbene Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić oder Danilo Kiš. In jüngerer Zeit haben der Rumäne Mircea Cărtărescu,  Drago Jančar aus Slowenien oder Ivana Sajko aus Kroatien mit Veröffentlichungen in Deutschland auf sich aufmerksam gemacht. In meinem Bücherregal stehen noch Aleksandar Tišma, Jurica Pavičić und Miljenko Jergović, letzterer ein bosnischer Autor, der aber auf Kroatisch schreibt. 14 Länder, 10 Sprachen – das Projekt Common Ground möchte die Literatur aus Südosteuropa für deutsche Leser*innen zugänglicher machen.

Bedeutende und erfolgreiche deutsche Autoren haben ihre Wurzeln in Südosteuropa, wie Saša Stanišić (Bosnien), Marko Dinić (Serbien), Ilja Trojanow (Bulgarien), Jagoda Marinić (Kroatien). Und natürlich stammt auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller aus Rumänien. Diese Autor*innen haben sich irgendwann entschlossen, auf Deutsch zu schreiben, davor stand immer eine Fluchterfahrung. Flucht vor der instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage, den Kriegen in den 1990er Jahren und dem zerbrechenden Vielvölkerstaat Jugoslawien.

Common Ground - Literatur aus SüdosteuropaTraduki

2008 wurde auf Initiative der S. Fischer Stiftung das TRADUKI-Netzwerk gegründet, ein Übersetzungsnetzwerk, an dem sich unter andern das Deutsche Auswärtige Amt, die Leipziger Buchmesse, das Goethe Institut, die Kulturministerien Österreichs, Liechtensteins, Serbiens und Kroatiens beteiligen, mit dem Ziel, Bücher aus den Balkanstaaten ins Deutsche und in die Sprache der Nachbarn übersetzen zu lassen.

2020 sollte auf der Leipziger Buchmesse, die sich traditionsmäßig nach Osten hin öffnet, ein kulturpolitisches Projekt namens „Common Ground – Literatur aus Südosteuropa“ gestartet werden. Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens (Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Slowenien) wollten gemeinsam mit Albanien, Bulgarien und Rumänien mit einem gemeinsamen Stand und vielen Veranstaltungen auf ihre Literatur aufmerksam machen. „Herkunft und Zughörigkeit“ sollte der Themenschwerpunkt sein. Die Corona-Krise machte dem zunächst einen Strich durch die Rechnung.

Zum Glück ist „Common Ground“ als Projekt auf drei Jahre angelegt, läuft also bis 2022, um Literatur aus Südosteuropa bekannter zu machen. Hoffentlich genug Zeit, um auf die Vielfältigkeit und gleichzeitig die Gemeinsamkeiten und das Verbindende in der südosteuropäischen Kultur und Literatur aufmerksam zu machen. Literatur als der große Vermittler. Eine schöne Vorstellung. Und deshalb sollen auch gerade die persönlichen Geschichten im Vordergrund stehen.

„Es soll ein anderes, ein authentischeres Bild vom Balkan vermittelt werden – jenseits der Katastrophen, Klischees und Vorurteile. Dabei soll auch das Stille und Alltägliche ans Licht kommen und dazu beitragen, dass sich Kulturen besser kennenlernen.“  (aus der Pressemitteilung)

Für mich bot sich eine willkommene Gelegenheit, diese mir bisher wenig bekannte Literaturregion etwas besser kennenzulernen. Dabei stellt sich aber die Frage, in wieweit es tatsächlich möglich ist, „jenseits der Katastrophen“ zu schreiben. In allen drei Büchern, die ich im Rahmen des Projekts gelesen habe, spielten Politik und die politischen Umbrüche eine überragende Rolle.

 

Damir Karakaš – Erinnerung an den Wald

 

Damir Karakaš - Erinnerung an den WaldEin kroatisches Bergdorf in den 1970er Jahren. Der kleine Ich-Erzähler hat einen Herzfehler, der ihm größere Anstrengungen verbietet. Trotzdem versucht er, den Anforderungen des strengen Vaters gerecht zu werden, hütet die Kühe und geht auf dem elterlichen Hof zur Hand, wenn er nicht gerade in der Schule ist oder diese heimlich schwänzt. Trotzdem lässt der Vater ihn seine Verachtung spüren, „Warum schafft Gott so etwas, was nicht zum Leben taugt?!“

Tief verwurzelt ist hier im Dorf und im Denken der Männer das Gesetz des Stärkeren. Auch wenn mit Präsident Tito ein „neues, modernes Jugoslawien“ beginnen soll, der Vater das erste Wasserklosett des Dorfes bauen lässt, ein Auto und ein Fernseher Einzug halten. Aberglaube und Härte bestimmen das Denken in der dörflichen Gemeinschaft.

Der Junge strebt nach der Anerkennung des harten Vaters, die Mutter ist in dieser patriarchalen und noch archaischen Welt schwach und unglücklich. Und auch die guten schulischen Leistungen des Sohnes finden in der Familie wenig Anerkennung. So werden die älteren Jungen seine Vorbilder, bewundert er ihre vermeintlich männliche Stärke. Zum Beispiel Schildkröte, den besten Fußballer des Dorfes, der Schnaps trinkt und mit seinem Moped durch die Gegend fährt. Oder den kleinkriminellen Mladen, der auch mal im Gefängnis landet.

Es ist eine von Männern dominierte Welt, dort in den kroatischen Bergen der 1970er Jahre, rau, brutal, engstirnig. Die Gewalt der Väter und Ehemännern wird an die Kinder weitergereicht, diese geben sie an Kleinere und Schwächere weiter oder an Tiere. Der Traum des Ich-Erzählers ist, einmal zum Militär zu dürfen. Auch die Vergangenheit war nicht friedlich. Viele der Großväter waren früher bei der Ustascha, der faschistischen Bewegung Kroatiens. Vielleicht konnte so aus der mühsam unterdrückten Gewalt des Alltags die große Gewalt, die sich in den Jugoslawienkriege entlud, wachsen.

Damir Karakaš erzählt episodenhaft in 33 kurzen Kapiteln. Die knappe, intensive Sprache entspricht dabei der Kargheit der geschilderten Welt. Karakaš hat sich damit in Kroatien nicht nur Freunde gemacht, sogar von Drohungen ist die Rede.

 

Damir Karakaš – Erinnerung an den Wald

Übersetzt von: Klaus Detlef Olof

Folio Verlag 2019, gebunden, 152 Seiten, 20,00 €

 

Angel Igov – Die Sanftmütigen

 

Angel Igov - Die SanftmütigenAuch Angel Igovs Buch Die Sanftmütigen war in seinem Heimatland Bulgarien eine Sensation, brach es doch ein altes Tabu, indem es die „Volksgerichte“ am Ende des Zweiten Weltkriegs 1944/45 thematisierte, in denen die früheren Machthaber in Schauprozessen nach stalinistischem Vorbild vorgeführt wurden und in Folge ein Großteil der alten bürgerlichen Elite ermordet oder zu langen Haftstrafen verurteilt wurde.

„Für Freisprüche sind diese Gerichte nicht gemacht. Ihre Aufgabe ist es, zu verurteilen.“

Hauptprotagonist ist Emil Strezov, ein Mann mit dichterischen Ambitionen und proletarischer Herkunft, den die Gunst der Stunde zunächst zum Mitläufer und schließlich zum Ankläger in diesen Prozessen macht. Mehr getrieben als wirklich aktiv, mehr naiv als wirklich ideologisch, verbeißt er sich in die Verfolgung eines gewissen Rostislav Stilijanov, seines Zeichens auch Dichter, mit dem er eine für ihn demütigende Begegnung verbindet.

„Hier konnte man erleben, wie der scharfe Impetus der Rache die Gerechtigkeit mit einem Mal ungerecht aussehen ließ. so verwandelte sich die Rechtsprechung in eine Heimzahlung und wurde zur Farce (…)“

Angel Igov erzählt in einer interessanten Perspektive, lässt eine Art antiken Chor, bestehend aus den Menschen, die mit Emil Strezov zusammen im Sofioter Armenviertel Jučbunar aufgewachsen sind, die genau recherchierten Ereignisse kommentieren.

„Erinnern können wir uns, gut, Emil Strezov, wenn wir auch sonst zu nichts nütze sind.

An den nun folgenden Tagen bekamen wir euch öfter zu sehen – mal im Trupp, mal einzeln wart ihr im Viertel auf Streife, protztet mit euren roten Armbinden, Ordnungshüter dem Anschein nach, dabei konntet ihr nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze sehen; uns saht ihr zumindest nicht.“

Aufgrund dieser interessanten Erzählperspektive, sarkastisch unterlegt, und die zumindest mir recht unbekannten Ereignisse rund um die „bulgarischen Schauprozesse“ eine spannende und erhellende Lektüre.

 

Angel Igov – Die Sanftmütigen

Übersetzt von: Andreas Tretner

eta Verlag 2019, gebunden, 215 Seiten, € 17,90

 

 

Lejla Kalamujić – Nennt mich Esteban

 

Nennt mich Esteban Lejla KalamujićAm meisten überrascht haben mich die 22 kurzen Erzählungen der bosnischen Autorin Lejla Kalamujić, die schon vor einigen Jahren erschienen sind und nun auf Deutsch vorliegen. Sie können wie ein Roman gelesen werden und handeln von der Ich-Erzählerin Lejla Kalamujić, die von ihrer Kindheit und Jugend erzählt.

Bestimmt wird diese von der Trauer über den frühen Tod der Mutter. Lejla Kalamujić war da erst zwei Jahre alt. Sie hörte von der Mutter in den Erzählungen der Verwandten, hütete deren alte Schreibmaschine wie einen Schatz. Die vier Großeltern kümmerten sich um sie, der Vater trank.

Schwierig wurde die Situation, als 1992 der Krieg ausbrach. Der Vater entstammt einer bosnisch-islamischen Familie, die Großeltern der Mutter sind Serben. Zwischen diesen beiden Identitäten ist Lejla zerrissen.

„In einem Zuhause, an zwei Orten, in zwei verschiedenen Stadtteilen aßen wir Pita von Nana Safeta und Sarman von Baka Brana, Dedo und Deda tranken Bier und Schnaps. Unsere Untermieter waren Allah und Tito.“

„Wer bist du? Zu wem gehörst du?“

Als der Krieg begann, zogen die serbischen Großeltern mit Lejla von Sarajevo nach Šid zur Schwester der Großmutter.

„Das war mein erster Verrat. Ich ging mit den einen Großeltern fort und ließ die anderen zurück. In das mitgenommene halbe Zuhause, das sich gar nicht richtig an dem neuen Ort niederlassen wollte, zog ein neuer Untermieter ein: Krieg.“

Bei Waffenstillstand kehrte Lejla nach Sarajevo zurück, doch die Ruhe hielt nur kurz. Und auch hier fühlte sie sich schuldig. Zur Trauer um ihre Mutter kam bald die Trauer über die Großeltern hinzu. Zerrissen zwischen ihrer bosnischen und ihrer serbischen Identität, spürte sie zudem, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte und sich auch in ihrer sexuellen Orientierung neu definieren musste. Verluste, Zerrissenheit, Identitätssuche, Krieg und die Absurditäten des Alltags in einem zerbrechenden Land – auch Depression ist ein Thema in den Erzählungen.

Eine Erzählung ist an die Lyrikerin Elizabeth Bishop und ihr Gedicht „Die Kunst des Verlierens“ adressiert und endet mit der Frage:

„Findest du, ich beherrsche die Kunst des Verlierens?“

Literatur, das Erzählen ist für Lejla Kalamujić immer eine Möglichkeit, wenn nicht die Welt, so doch sich selbst zu retten.

Das alles ist wunderbar geschrieben. Trotz der so schweren Themen ist das Buch leicht, schwebend, traurig und hoffnungsvoll. Es gehört zu meinen absoluten Highlights in diesem Lesejahr und ich kann es nur jedem ans Herz legen.

 

Lejla Kalamujić – Nennt mich Esteban

übersetzt von Marie-Louise Alpermann

eta Verlag 2019, gebunden, 215 Seiten, € 17,90

 

Common Ground – Literatur aus Südosteuropa – nur einen winzigen Einblick habe ich durch diese drei sehr empfehlenswerten Romane gewonnen. Es gibt noch viel zu entdecken. Das Projekt Common Ground wird noch bis 2022 fortgesetzt. Auf der Website von Traduki kann man auf dem Laufenden bleiben. Dort und auf Instagram und Facebook veranstaltet Traduki auch das Literarische Frühstück mit Autoren aus Südosteuropa.

Tino Schlench beschäftigt sich auf seinem Blog Literaturpalast besonders mit Literatur aus Osteuropa und bietet dort auch regelmäßig einen Podcast mit AutorInnen aus diesem Sprachraum an.

 

Beitragsbilder : copyright Traduki

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