Lektüre Juli 2020

Ein Sommer ohne Urlaubsreise – bedeutet das nun mehr oder weniger Zeit für die Lektüre im Juli 2020? Keine Ahnung, wieviel ich in einem normalen Familienurlaub geschafft hätte, so wurden es immerhin 2355 Seiten, acht Bücher und ein Hörbuch. Der hochgelobte Roman von Lily King Writers & Lovers war der einzige, der hinter meinen Erwartungen doch ziemlich weit zurückblieb. Ansonsten alles 100% Leseempfehlungen und zwei Highlights, die über den Monat hinausragen: Lejla Kalamujić mit ihrem Roman Nennt mich Esteban und Colum McCann mit Apeirogon.

Besonders gefreut habe ich mich, dass ich für das Fachmagazin BuchMarkt im August mit drei Bloggerkolleginnen meine Favoriten aus den kommenden Herbstprogrammen der Verlage vorstellen durfte. Eine schwere Entscheidung, denn es gibt natürlich weit mehr als drei Bücher auf die ich mich extrem freue. Entscheidend war dann, in welche ich schon einmal hineinlesen konnte. Ganz gelesen habe ich Hanne Ørstaviks neuen Roman Roman.Milano (Karl-Rauch-Verlag), der aber erst im August erscheint, deshalb hier noch keine Besprechung. Auch in Queenie von Candice Carty-Williams (Blumenbar) habe ich schon weit hineingelesen und das verspricht ein toller Roman zu sein. Und Suhrkamp veröffentlicht im August mit Scham von Annie Ernaux ein weiteres Werk dieser von mir so geschätzten Autorin.

Nun aber zu meiner Lektüre, den gelesenen Büchern im Juli 2020:

 

Nennt mich Esteban Lejla Kalamujić

Lejla Kalamujic – Nennt mich Estaban

22 kurze Erzählungen der bosnischen Autorin Lejla Kalamujić, die schon vor einigen Jahren erschienen sind und nun auf Deutsch vorliegen. Sie können wie ein Roman gelesen werden und handeln von der Ich-Erzählerin Lejla Kalamujić, die von ihrer Kindheit und Jugend erzählt. Bestimmt wird diese von der Trauer über den frühen Tod der Mutter. Lejla Kalamujić war da erst zwei Jahre alt. Sie hörte von der Mutter in den Erzählungen der Verwandten, hütete deren alte Schreibmaschine wie einen Schatz. Die vier Großeltern kümmerten sich um sie, der Vater trank. Schwierig wurde die Situation, als 1992 der Krieg ausbrach. Der Vater entstammt einer bosnisch-islamischen Familie, die Großeltern der Mutter sind Serben. Zwischen diesen beiden Identitäten ist Lejla zerrissen. Außerdem ist es die Geschichte eines weiblichen Coming-outs. Das alles ist wunderbar geschrieben. Trotz der so schweren Themen ist das Buch leicht, schwebend, traurig und hoffnungsvoll. Es gehört zu meinen absoluten Highlights in diesem Lesejahr und ich kann es nur jedem ans Herz legen.

 

Damir Karakaš - Erinnerung an den Wald

Damir Karakaš – Erinnerung an den Wald

Ein kroatisches Bergdorf in den 1970er Jahren. Der kleine Ich-Erzähler hat einen Herzfehler, der ihm größere Anstrengungen verbietet. Trotzdem versucht er, den Anforderungen des strengen Vaters gerecht zu werden, hütet die Kühe und geht auf dem elterlichen Hof zur Hand, wenn er nicht gerade in der Schule ist oder diese heimlich schwänzt. Trotzdem lässt der Vater ihn seine Verachtung spüren, „Warum schafft Gott so etwas, was nicht zum Leben taugt?!“ Es ist eine von Männern dominierte Welt, dort in den kroatischen Bergen der 1970er Jahre, rau, brutal, engstirnig. Die Gewalt der Väter und Ehemännern wird an die Kinder weitergereicht, diese geben sie an Kleinere und Schwächere weiter oder an Tiere. Der Traum des Ich-Erzählers ist, einmal zum Militär zu dürfen. Auch die Vergangenheit war nicht friedlich. Viele der Großväter waren früher bei der Ustascha, der faschistischen Bewegung Kroatiens. Vielleicht konnte so aus der mühsam unterdrückten Gewalt des Alltags die große Gewalt, die sich in den Jugoslawienkriege entlud, wachsen.

Damir Karakaš erzählt episodenhaft in 33 kurzen Kapiteln. Die knappe, intensive Sprache entspricht dabei der Kargheit der geschilderten Welt. Karakaš hat sich damit in Kroatien nicht nur Freunde gemacht, sogar von Drohungen ist die Rede.

 

Angel Igov - Die Sanftmütigen

Angel Igov – Die Sanftmütigen

Angel Igovs Buch Die Sanftmütigen war in seinem Heimatland Bulgarien eine Sensation, brach es doch ein altes Tabu, indem es die „Volksgerichte“ am Ende des Zweiten Weltkriegs 1944/45 thematisierte, in denen die früheren Machthaber in Schauprozessen nach stalinistischem Vorbild vorgeführt wurden und in Folge ein Großteil der alten bürgerlichen Elite ermordet oder zu langen Haftstrafen verurteilt wurde. Hauptprotagonist ist Emil Strezov, ein Mann mit dichterischen Ambitionen und proletarischer Herkunft, den die Gunst der Stunde zunächst zum Mitläufer und schließlich zum Ankläger in diesen Prozessen macht. Angel Igov erzählt in einer interessanten Perspektive, lässt eine Art antiken Chor, bestehend aus den Menschen, die mit Emil Strezov zusammen im Sofioter Armenviertel Jučbunar aufgewachsen sind, die genau recherchierten Ereignisse kommentieren. Aufgrund dieser interessanten Erzählperspektive, sarkastisch unterlegt, und die zumindest mir recht unbekannten Ereignisse rund um die „bulgarischen Schauprozesse“ eine spannende und erhellende Lektüre.

 

Im Herzen des Goldenen Dreiecks von Petina Gappah

Petina Gappah – Im Herzen des Goldenen Dreiecks

Im vergangenen Jahr gehörte der neue Roman von Petina Gappah, Aus der Dunkelheit strahlendes Licht, der von Tod und Überführung des Afrikaforsches David Livingston erzählte, zu meinen Lese-Highlights, jetzt veröffentlicht der Arche Verlag den Erstling der Autorin von 2009, den Erzählungsband Im Herzen des Goldenen Dreiecks.
In dreizehn Geschichten erzählt Petina Gappah von ihrem Heimatland Simbawe, von den enormen Gegensätzen, die dort herrschen, der Korruption, der Bereicherung durch die Eliten, der diktatorischen Herrschaft Robert Mugabes, der das Land bis zu seiner Absetzung 2017 mehr als dreißig Jahre beherrschte. Petina Gappah schaut mit Wut auf diese Dinge, aber auch mit Witz und Sarkasmus, außerdem mit großer Zuneigung gegenüber den Menschen, die unter diesen Bedingungen leben müssen.

 

Colum McCann - Apeirogon

Colum McCann – Apeirogon

Ein großer Roman, ein Lesehighlight! Colum McCann erzählt fragmentarisch in 1001 Kapiteln von Rami Elhanan und Bassam Aramin, der eine israelischer Jude, der andere muslimischer Palästinenser, die eines eint: beide haben durch Gewalt ihre Töchter verloren. Die dreizehnjährige Smadar verlor 1997 ihr Leben bei einem palästinensischen Selbstmordanschlag in Jerusalem, die zehnjährige Abir traf das Gummigeschoss eines israelischen Grenzsoldaten tödlich. Beide eint der Schmerz und die Trauer, aber auch das Bemühen, die Gewalt, den Hass und ihren Ursprung, die Besatzung Palästinas zu beenden. Ihre Geschichten vereint Colum McCann mit unzähligen Erzählsplittern zu einem formal komplex und anspruchsvoll gebauten, großartigen Roman, der auf der Longlist des diesjährigen Booker Prize steht.

 

Zora del Buono - Die Marschallin

Zora del Buono – Die Marschallin

Die Schweizer Autorin Zora del Buono erzählt die Geschichte ihrer Großmutter. Ein Leben zwischen Slowenien und dem italienischen Bari, ein Leben, das dem Kommunismus verschrieben war, Marschall Tito bewunderte und doch ganz dem großbürgerlichen Lebensstil verschrieben war. Ein spannender Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts und das Leben einer entschlossenen Frau. Ein empfehlenswerter Familienroman mit zeitgeschichtlichem Hintergrund.

 

Lily King - Writers & Lovers

Lily King – Writers & Lovers

Lily King wollte den Roman schreiben, den sie als Anfang zwanzigjährige, angehende Schriftstellerin so gerne gelesen hätte. Einen Roman über eine junge Frau, die gegen allerhand Widerstände, meistens männlichen Ursprungs, aber auch ihrer prekären finanziellen Lage geschuldet, an ihrem Traum vom Schriftstellerleben festhält. Einen Roman, der Hoffnung machen soll. Herausgekommen ist ein modernes Märchen, das sich ganz gut liest, aber doch zu vorhersehbar, zu kalkuliert ist und allerlei Klischees bedient. Sicher ein Buch, das auch heute von vielen Leserinnen gern gelesen wird, letztendlich aber doch ziemlich unerheblich ist.

 

Robert Seethaler - Der letzte Satz

Robert Seethaler – Der letzte Satz gelesen von Matthias Brandt

1911, der Komponist Gustav Mahler überquert auf der Amerika den Atlantik, schon gezeichnet von der bakteriellen Herzkrankheit, der er im Mai erliegen sollte, gerade einmal 56 Jahre alt. Sein Leben lang war er von schwacher Gesundheit, litt an Migräne und Fieber, die in auch auf der Schiffsreise quälen. In Seethalers kurzem Roman sitzt Mahler eingehüllt in Decken auf dem Deck. Erinnerungen branden auf, an die Sommer  1908 bis 1910 im Südtiroler Toblach, wo er im Komponierhäuschen eines Bauernhofs an seinen Sinfonien arbeitete, an einen Parisaufenthalt 1909, bei dem ein äußerst grantiger Auguste Rodin eine Büste von ihm anfertigte, an seine Arbeit und sein Leben in New York. Immer wieder schweifen seine Gedanken zu seinen geliebten Töchtern und seiner jungen, schönen Frau Alma. Die ältere Tochter Maria starb 1907 an Diphtherie, seine Frau hat er an den „Baumeister“ Walter Gropius verloren, auch wenn sie bis zu seinem Tod bei ihm bleiben sollte. Erinnerungen an seine Kindheit und das Komponieren, seine Musik. Aber „Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald sich eine Musik beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ So das Urteil Mahlers. Und auch Robert Seethaler hält sich da sehr zurück. Und so wird sein Roman über Gustav Mahler stattdessen zu einem melancholischen Stück über das Abschiednehmen, das Ende des Lebens und den herannahenden Tod. „Ich sollte noch ein bisschen bleiben,“ ruft Mahler bei Seethaler in den Wind. Es wird ihm nicht lange vergönnt sein. Ein sehr ruhiges, schwermütiges, schönes kleines Werk.

Das war sie nun, meine Lektüre im Juli 2020 – ohne Frankreichreise, aber mit vielen sehr schönen Lesestunden. Ich hoffe, ihr habt den Sommer bisher auch trotz der besonderen Lage genießen können. Was war denn euer Lesehighlight des Sommers?

2 Gedanken zu „Lektüre Juli 2020

  1. Hallo Petra,
    Apeirogon steht auf meiner Wunschliste, Der letzte Satz liegt auch als Hörbuch hier.
    Der Rest hört sich auch interessant an, aber mein SUB ist zu hoch für neue Bücher…
    Viele liebe Grüße
    Silvia

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