Colum McCann – Apeirogon

Apeirogon – der Titel des neuen Romans von Colum McCann bezeichnet eine geometrische Figur, die eine zählbar unendliche Menge an Seiten besitzt. Dies ist aber nicht die einzige mathematische Metapher, die der Autor verwendet, so kommen verschiedene Male auch die „befreundeten Zahlen“ vor, die jeweils gleich der Summe der echten Teiler der anderen Zahl sind (z.B. 220 und 284), das Apeirogon ist aber Programm.

Zum einen, was den Aufbau des Buches betrifft. Nicht zählbar unendliche, aber doch für einen Roman stattliche 1000 kurze und kürzeste Kapitel umfasst der Roman, manche bestehen lediglich aus einem kurzen Satz, einem Bild oder einem Foto. 499 davon laufen auf die Mitte des Werkes zu, wo, abgetrennt durch je zwei ganzseitige Fotos von sanften Wellen auf dem Wasser (es könnten auch Wellenmuster im Wüstensand sein), die beiden Kapitel 500 wie in einem Raum der Stille eingefangen sind. Ganz recht, die beiden Kapitel 500. Denn es gibt derer zwei und danach läuft die Nummerierung der nachfolgenden wieder absteigend bis zu einem abschließenden Kapitel 1. Zentrum des Romans ist die 1001. Und hier, auf gerade einmal eineinhalb Seiten und in einem einzigen langen Satz, finden wir die komplette Rahmenhandlung von Apeirogon.

Zusammengefasst lautet er:

„Vor nicht allzu langer Zeit in einem nicht allzu fernen Land fuhr Rami Elhanan, Israeli, Jude (…) mit dem Motorrad von einem Jerusalemer Vorort zum Kloster Cremisan in der mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt Bait Dschala, im judäischen Bergland, bei Bethlehem, um sich dort mit Bassam Aramin zu treffen, Palästinenser, Muslim (…)“

Reale Personen

Rami Elhanan und Bassam Aramin sind reale Personen. Ihr Zusammentreffen allein schon bemerkenswert im israelisch-palästinensischen Konflikt, in dem sich beide Seiten so oft unversöhnlich gegenüberstehen. Sie eint nicht nur eine Freundschaft, sondern ein gemeinsames Schicksal und eine gemeinsame Mission. Beide haben ihre Töchter durch Gewalt verloren: Smadar Elhanan starb bei einem Selbstmordattentat palästinensischer Terroristen auf der Juerusalemer Ben-Jehuda-Straße im September 1997, dreizehnjährig; Abir Aramin starb als Zehnjährige durch ein von einem jungen israelischen Grenzpolizisten abgefeuertes Gummigeschoss. Ihre Väter Rami und Bassam betrachten es als ihre Mission, immer wieder vom Tod ihrer Töchter zu erzählen, in Schulen, in Seminaren, wohin immer man sie einlädt.

Rami Elhanan (l.) und Bassam Aramir, eine Doku über die Beiden kann man sich auf © Je reste Charlie ansehen

In einem dieser Seminare, auf denen die beiden von ihrem Verlust, von der Notwendigkeit, beide Seiten des Konflikts zum Miteinanderreden zu bewegen, die Besatzung Palästinas als Auslöser der Gewalt zu beenden und so eine Chance für eine Befriedung Israels zu schaffen, saß, auch das erfährt man in diesem zentralen 1001. Kapitel, der amerikanische Schriftsteller Colum McCann. Die Erzählungen von Rami und Bassam auf diesem Seminar bilden die beiden 500. Kapitel, die der Autor mit deren Einverständnis hier widergeben darf (so wie er auch das Einverständnis besitzt, mit ihren Geschichten schriftstellerisch relativ frei umzugehen).

Und wie Scheherazade in den Erzählungen aus 1001 Nacht, die Colum McCann für den Aufbau von Apeirogon sicher Inspiration waren, ist es ein Widerstand gegen den Tod, erzählen die beiden Männer hier um das Leben. Das verlorene Leben ihrer Töchter und all die durch die Gewalt bedrohten Leben, wenn der Konflikt nicht irgendwann beigelegt werden kann. Ihr Ziel ist es auch, den Schmerz, den sie erleiden müssen, für andere zu verhindern.

Apeirogon

Das Apeirogon ist also Programm für den komplexen formalen Aufbau des Romans, es ist aber auch Sinnbild für die unendlich vielen unterschiedlichen Sichtweisen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, die unzähligen Standpunkte, die Unübersichtlichkeit der verschiedenen Lager, die Widersprüchlichkeit. All das sind Dinge, die eine Lösung des Konflikts erschweren.

Und während Rami nun in der Rahmenhandlung an diesem Herbsttag im Jahr 2016 mit dem Motorrad zum Ort des Seminars, dem Kloster Cremisan, und anschließend Bassam mit dem Auto nach Hause in die palästinensische Stadt Anata im zentralen Westjordanland fährt, erfahren wir nicht nur viel vom Leben der beiden, von ihren Töchtern, deren Tod und der unendlichen Trauer darüber, von den Organisationen, die die Väter gegründet haben, die Combatants for Peace und den Parents Circle, über den sich die beiden auch kennengelernt haben. Wir dringen auch ganz tief in den israelisch-palästinensischen Konflikt ein, erfahren, wie demütigend und beschwerlich das Leben für die meisten Palästinenser unter der Besatzung ist, wie verhärtet die Fronten, wie leicht auf beiden Seiten Gewalt entstehen kann. Für Rami und Bassam sind ihre Töchter Opfer von Opfern. Opfer der andauernden Besatzung Palästinas und der Unfähigkeit der Regierungen, Frieden zu schließen.

Colum McCann
Colum McCann 2009 in Lyon by Kudosmaker (Seamus Kearney) / CC BY-SA via Wikimedia commons
Mosaiksteinchen

Colum McCann, der durch die Schilderungen der beiden Väter sehr berührt wurde und der während seiner irischen Kindheit den Nordirland-Konflikt miterlebte, wählt für Apeirogon eine absolut fragmentarische Erzählweise. Zu den Geschichten von Rami und Bassam, ihren Töchtern und Familien und der Schilderung der Gegebenheiten in Israel und den palästinensischen Gebieten kommen kleine Splitter und Mosaiksteinchen aus unterschiedlichsten Richtungen. Immer wieder erscheinen Vögel, die auch bei der Gestaltung von Buch und Buchumschlag Verwendung fanden. Zugvögel, die ihre Route über den Nahen Osten führt, der Ortolan beispielsweise, der auch als leicht makabre Delikatesse gilt, aber auch Falken, Adler und immer wieder die Taube in ihrer Funktion als Friedenssymbol. Da gibt es die Steinschleuder, die zur Jagd auf Vögel benutzt wird. Die aber auch bei der Intifada, dem Krieg der Steine, benutzt wurde.

Ein Forschungsreisender aus dem 19. Jahrhundert, Sir Richard Francis Burton, kommt darin vor, ebenso der französische Hochseilartist Philippe Petit, der Jerusalem auf dem Seil überquerte. Der irische Priester Christopher Costigan, der im 19. Jahrhundert den Jordan und das Tote Meer erforschte bekommt genauso seinen Platz wie die palästinensische Studentin Dalia el-Fahum, die in der Wüste Tonaufnahmen machte und dabei umkam. Eine Aufführung von Verdis Requiem im Konzentrationslager steht neben dem Halberstädter Orgelprojekt von John Cage, „As slow as possible“. Auschwitz und Theresienstadt sind als Hintergrund immer präsent.

Formal kunstvoll

Diese ganzen Splitter sind aber keineswegs beliebig, sondern Teil der äußerst kunstvollen Komposition des ganzen Buchs. Nach einer kurzen Zeit des Einlesens entdeckt die Leserin sehr schnell Zusammenhänge, die musikalische Struktur, die wie eine Fuge vielstimmig, aber mit strengem Aufbau ist. So tauchen auch bestimmte Motive immer wieder auf. So die Mauer, die das Land, aber auch seine Menschen durchzieht; das Bild der kollabierenden Lunge; das Zitat „Teilt man das Leben durch den Tod, erhält man einen Kreis; den auf Jassir Arafat zurückgehende Satz: „Lassen Sie nicht zu, dass mir der Ölzweig aus der Hand fällt.“ Ganz allmählich entsteht der eigentliche Roman beim Zusammensetzen der einzelnen Fragmente im Kopf der Leserin.

Trotz der großen Komplexität, mit der Colum McCann Apeirogon formal gestaltet hat, liest sich das Buch nach einer kurzen Anlaufzeit sehr gut, gerät die Leserin nachgerade in einen Erzählsog mit steigender Intensität, deren Höhepunkt sicher die Geschichten von Rami und Bassam in der Mitte sind. In den nachfolgenden Kapiteln dann auf die Fotos der beiden getöteten Mädchen zu stoßen, ist äußerst berührend. Die kunstvolle Komposition und die Symmetrie der Erzählung beeindrucken.

Der israelisch-palästinensische Konflikt

Natürlich bietet Colum McCann mit Apeirogon keinen Lösungsansatz für den israelisch-palästinensischen Konflikt, noch nicht einmal einen Versuch, den kompletten Durchblick zu erlangen. Es ist vielmehr ein Appell, einander zuzuhören, eine Hoffnung auf ein Ende der Gewalt, einen Verzicht auf Rache, ein Versuch, Empathie zu wecken. Zugleich ist das Buch ein großartiger Versuch über Trauer, Vergänglichkeit und die Zeit. Und ein absolutes Meisterwerk.

Colum McCann steht mit Apeirogon auf der diesjährigen Longlist des Booker Prize. Ich kenne bisher nur drei der dreizehn Kandidaten. Und obwohl ich Hilary Mantel sehr bewundere und ihren dritten Teil der Cromwell-Saga absolut großartig finde und Ann Tyler sehr liebe, ist mein Favorit ab sofort Apeirogon.

 

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Beitragsbild: Ras ‚Atiya by Paolo Cuttitta (CC BY 2.0) via Flickr

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Colum McCann - Apeirogon.

Colum McCann – Apeirogon

übersetzt von: Volker Oldenburg

Rowohlt Juli 2020, gebunden, 608 Seiten, € 25,00

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