Seweryna Szmaglewska war 26 Jahre alt, als sie am 18. Juli 1942 in ihrer Heimatstadt Piotrków Trybunalski verhaftet wurde. Grund dafür war nicht die Untergrundarbeit, die die junge Warschauer Soziologiestudentin für den polnischen Widerstand leistete, sondern die tragische Fehleinschätzung eines deutschen SS-Mannes, der das Geraderücken ihrer Brille in der Öffentlichkeit als ein geheimes Signal interpretierte. Zur Zeit der deutschen Besatzung Anlass genug für eine Internierung. Seweryna Szmaglewska wurde im Oktober nach Auschwitz-Birkenau deportiert und verbrachte dort, bis sie im Januar 1945 bei der Liquidierung des Lagers fliehen konnte, unglaubliche 30 Monate als politische Gefangene. Sie begann sogleich mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen, die sie in Polen zu einer bekannten Autorin machten und zu einer der Zeuginnen bei den Nürnberger Prozessen. Übersetzungen in zehn Sprachen folgten, Deutsch war nicht darunter. Erst jetzt, 75 Jahre später, erscheinen die Aufzeichnungen von Seweryna Szmaglewska im Schöffling Verlag unter dem Titel Die Frauen von Birkenau.
Lagerhäftling Nummer 22090
Nichts vom Leben der Autorin vor Auschwitz erfahren wir durch ihren Bericht, nicht vom frühen Tod der Eltern, nichts von der Lehrerin, die zu ihrer geliebten Pflegemutter wird, nichts von ihren schriftstellerischen Ambitionen, der Arbeit für den Polnischen Rundfunk. Als Lagerhäftling Nummer 22090 taucht sie völlig unter in der Menge der Internierten. Lediglich im Vorwort gebraucht sie hin und wieder „ich“, „mein“, „wir“. Der Rest des Buches ist in einem merkwürdig allgemeingültigen, distanzierten Ton verfasst. Nur andeutungsweise ist zu erfahren, dass Seweryna Szmaglewska nicht nur zu den besonders gesunden, widerstandsfähigen Frauen gehört haben muss, die mehrmals Typhus und andere Krankheiten überstand, sondern dass sie sowohl im Lagerteil „Kanada“, der die den Häftlingen bei Einlieferung abgenommenen Besitztümer verwaltete, als auch auf den Feldern gearbeitet haben muss. Auch ihre Bekanntschaft mit dem beim Bautrupp arbeitenden Häftling Witold Wiśnewski, mit dem sie nach dem Krieg eine Familie gründen wird, bleibt unerwähnt. Mehr über die Autorin erfahren wir erst im informativen Nachwort der Übersetzerin Marta Kijowska.
Dieser distanzierte, sachliche Stil, in dem Seweryna Szmaglewska wie in einer Art Selbsttherapie und als Verpflichtung den Opfern gegenüber ihre Zeit in Auschwitz-Birkenau aufgeschrieben hat, und die große zeitliche Nähe zum Erlebten – bereits im Juli 1945 war das Buch abgeschlossen und im Dezember in den Buchhandlungen erhältlich – führten wahrscheinlich dazu, dass es als Beweismittel im Prozess gegen die Hauptverbrecher der Nationalsozialistischen Diktatur vor dem Internationalen Militärgericht in Nürnberg diente. Seweryna Szmaglewska benannte die Täter mit Klarnamen und sagte auch persönlich vor dem Gericht aus.
Allgemeingültigkeit
Der lakonische, kühle Stil der Aufzeichnungen ist aber vielleicht auch mit ein Grund, weshalb es das Buch in Deutschland bisher so schwer hatte. Ein solch nüchterner Stil, gerade auch von einer weiblichen Zeitzeugin! Dabei ist das Buch von großer stilistischer Brillanz und einem stringenten Aufbau, also auch literarisch herausragend. Und trotz oder gerade wegen seiner betont um Allgemeingültigkeit bemühten, distanzierten Erzählweise absolut eindringlich, beispielsweise bei den kleinen Porträts einzelner Frauen. Besonders intensiv wird es durch die vielen Details, mit denen der Lageralltag und die Verrohung unter den Bewachern, aber auch unter den Internierten, geschildert werden. Die ständigen Zählappelle, die sinnlosen Entlausungen, zermürbende Alltäglichkeiten, dazu ersonnen, den Internierten ihre Menschlichkeit zu stehlen. Die strengen Hierarchien, die gebildet wurden. SS-Männer, Kapos, Funktionsgefangene, Lager-, Blog- und Stubenälteste – es gab eine genaue Rangordnung, der sich auch die Gefangenen mehr oder weniger skrupellos bedienten.
Seweryna Szmaglewska schreckt dabei auch nicht zurück, diese Gruppenbildung in Die Frauen von Birkenau genau zu beleuchten. Netzwerke waren dabei manchmal die einzige Möglichkeit, zu überleben. Eine besonders unrühmliche Rolle spielten dabei oft die „Kriminellen“. Auf sie wirft die Autorin einen strengen Blick, ebenso auf die meisten der im Lageralltag bevorzugten deutschen (nichtjüdischen) Insassen, wobei es noch die Unterscheidung Reichdeutsche, Volksdeutsche und die Unterzeichner einer Erklärung zum Deutschtum gab. Am untersten Rand der Rangordnung standen die jüdischen Gefangenen.
Überfällige deutsche Üersetzung
Bei aller Objektivität, um die Seweryna Szmaglewska bemüht ist, fällt sie aber auch oft harte Urteile gegenüber ihren Mitgefangenen. Ein gewisser Hochmut, etwa gegenüber den inhaftierten „Zigeunern“, schimmert auch durch. Dies ist gewiss der Zeit verhaftet, genau wie manche sachliche Fehlerhaftigkeit, etwa bei der Angabe im Vorwort, dass in Auschwitz ca. 5 Millionen Menschen verbrannt worden seien (in Wirklichkeit um die 1,3 Millionen).
Die Frauen von Birkenau von Seweryna Szmaglewska ist eines der unmittelbarsten Zeugnisse der grauenvollen Zustände im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und eines der eindringlichsten zum Lageralltag mit besonderem Blick auf die dort gefangenen Frauen. Im Original Dymy nad Birkenau (Rauch über Birkenau) betitelt, musste es nicht nur 75 Jahre auf die deutsche Übersetzung warten, sondern auch noch seinen Titel an die 1997 im Kunstmann Verlag erschienene Erzählungssammlung von Liana Millu abtreten. Dass der Schöffling Verlag diese Versäumnisse nun behebt ist der Anerkennung mehr als wert. Im November erscheint dort dann auch das Buch „Bei uns in Auschwitz“ des polnischen Landmannes Tadeusz Borowski neu.
Zu einem ebenfalls sehr früh 1945 entstandenen Werk, Ich blieb in Auschwitz von Eddy de Wind (Piper), das auch in diesem Jahr zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, hat Birgit auf Sätze und Schätze eine Besprechung geschrieben.
Beitragsbild via Pixabay
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Seweryna Szmaglewska – Die Frauen von Birkenau
Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Marta Kijowska
Schöffling Verlag Juli 2020, 456 Seiten. Mit 16-seitigem Bildteil. Gebunden. € 28,00 €
Liebe Petra,
danke für die Verlinkung, aber vor allem für Deinen Text. Es ist schon erstaunlich, wieviele Zeitzeugenberichte erst jetzt in deutscher Sprache zugänglich gemacht werden. Und wieviel es noch zu erfahren gibt. Umso besser, dass sich die Verlage darum bemühen, insbesondere in einer Zeit der Geschichtsvergessenheit.
Viele Grüße, Birgit
Sehr gerne, liebe Birgit. Eddy de Wing wäre mir ohne deinen Beitrag entgangen. Ich bin auch überraschr, aber Deutschland war 1945/46 wohl noch nicht so weit, dann gingen die Titel vergessen. Jetzt, wo die letzten Zeitzeugen bald nicht mehr leben werden, sind solche Veröffentlichungen noch wichtiger geworden. Liebe Grüße, Petra