Jean-Paul Dubois hat 2019 den französischen Prix Goncourt mit einem sehr amerikanischen Roman gewonnen. Der 1950 in Toulouse geborene Dubois war ab 1984 zwanzig Jahre lang Amerikabeobachter für das französische Nachrichtenmagazin Le nouvel observateur und bezeichnet sich selbst als großer Verehrer von amerikanischen Autoren wie Philip Roth und John Updike. Aber nicht nur die stilistische Nähe macht „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ zu einem „amerikanischen“ Roman, Jean-Paul Dubois wählt als einen zentralen Handlungsort den nordamerikanischen Kontinent. Dort, im Bordeaux-Gefängnis in Montréal, Québec, Kanada, sitzt sein Ich-Erzähler eine Haftstrafe ab.
Ein Großteil der Spannung des Buchs erwächst daraus, dass dem Leser zu Beginn nur andeutungsweise der Grund für den Gefängnisaufenthalt offenbart wird. Eine schwere Körperverletzung, vielleicht auch versuchte Tötung scheint von Paul Hansen begangen worden zu sein. Auch was es genau mit den „drei Toten“, die er von Anfang an betrauert, auf sich hat und ob sie mit seiner Tat in Verbindung stehen, wird erst nach und nach klar. Wer sie sind, erzählt uns Paul Hansen aber gleich: sein Vater, der aus Dänemark stammende Johanes Hansen, seine indigene kanadische Frau Winona und seine Hündin Nouk. Und die große, überwältigende Trauer, die er über deren Tod empfindet, durchzieht den gesamten Roman.
Dänischer Vater, französische Mutter
Paul Hansen wurde als Sohn des aus dem nördlichsten Zipfel Dänemarks, aus Skagen, stammenden Pastors Johanes und der lebenslustigen französischen Kinobesitzerin Anna Margerit in Toulouse geboren. Die Heimat seines Vaters, die versandete Kirche südwestlich von Skagen und die dänische Verwandtschaft faszinieren den jungen Paul ebenso wie die vielen Fragen, die er sich zu seinen Eltern stellt. Vor allem die eine: wie kommt es, dass zwei so völlig unterschiedliche Menschen zueinander gefunden haben? Dass sie sich voneinander angezogen gefühlt und eine gemeinsame Familie gegründet haben? Paul erzählt ihre Geschichten, aber entschlüsseln kann er dieses Rätsel nicht.
Die Ehe scheitert, wenn auch erst spät. 1975, Paul ist da bereits zwanzig Jahre alt, verlässt Johanes Frankreich und Europa und tritt eine Stelle als Pastor einer Kirchengemeinde im französischsprachigen Teil Kanadas, in Thetford Mines, einem kleinen Nest südlich der Stadt Québec, an. Paul folgt ihm dahin kurz darauf. Nach dem Tod des Vaters 1982 zieht Paul nach Montréal und gerät eher zufällig an die Stelle eines Hausmeisters in einer exklusiven Wohnanlage für betuchtere Senioren. Für die Bewohner des Excelsior wird er bald zur guten Seele und „Mädchen für alles“. Doch auch hier ändern sich die Zeiten.
Kanada
2009 ist die Gegenwartsebene des Romans. Paul Hansen sitzt im „Bordeaux“ ein und erinnert sich. Die melancholischen Rückblenden werden durch diese alternierenden Gefängnisszenen humorvoll aufgelockert. Denn so verlassen von allen sich Paul hier auch fühlt, beschreibt er den Alltag in der Strafanstalt doch mit viel Humor. Ein Großteil der Komik rührt vom Zellengenossen Patrick her. Der ist ein Hells Angels Angehöriger und sitzt eine längere Haftstrafe ab. Auch wenn er seine Unschuld beteuert, ist er der Gewalt durchaus nicht abgeneigt und wird verdächtigt, an der Exekution eines „Verräters“ beteiligt gewesen zu sein. Ein Hüne von einem Mann, aber kindlich in der Seele und verrückt nach seiner Harley Davidson. Mit Patrick Horton kommt viel Witz in das Buch, gleichzeitig ist seine Charakterisierung aber auch ein wenig schlicht und vorhersehbar.
Das gilt übrigens auch für Paul und alle anderen Figuren des Romans. Ist Patrick der Typ „außen hart und brutal, innen aber verletzlich und gut“, so sind die anderen Personen alle eigentlich nur Schwarz oder Weiß. Das mag am Ich-Erzähler Paul liegen, macht die ganze Sache aber ein wenig flach. Besonders die geradezu Vergötterung seiner Frau Winona, halb Alonquin Indianerin, halb Irin, einer mutigen Pilotin von Wasserflugzeugen, ist manchmal ein wenig aufdringlich. Auch Paul ist daraufhin angelegt, dass man ihn sofort ins Herz schließen soll.
Etwas zu vorhersehbar
„Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ von Jean-Paul Dubois ist eine schön erzählte, so melancholische wie humorvolle Geschichte. Auch gesellschaftskritische Aspekte sind durchaus vorhanden, beispielsweise, wenn es um den Umgang der Gesellschaft mit Arbeitnehmern geht, wenn der Profit über allem steht. Dennoch ist die Handlung zu vorhersehbar und auch die Auflösung, was es nun mit den drei Toten auf sich hat, enttäuscht am Ende.
Dass der Roman den Prix Goncourt, schließlich den einflussreichsten französischen Literaturpreis, erhalten hat, überrascht dann doch ein wenig. Besonders, wenn man sich die hochkarätigen Gewinner der letzten Jahre, Nicholas Mathieu „Wie später ihre Kinder“, Éric Vuillard „Die Tagesordnung“ oder auch Mathias Énard „Kompass“ in Erinnerung ruft. „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ von Jean-Paul Dubois rangiert da eher auf der Ebene von Paul Lemaitres „Wir sehen uns dort oben“ – gut geschriebene, unterhaltsame Romane.
Constanze von Zeichen und Zeiten besprach den Roman sehr positiv.
Beitragsbild: Bordeaux Gefängnis Montréal by Stéphane Batigne / CC BY via Wikimedia Commons
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Jean-Paul Dubois – Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver
dtv Literatur Juli 2020, gebunden, 256 Seiten, € 22,00
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