Meine Lektüre im August 2020: durchaus gemischt. Einige Enttäuschungen, eine Debüt-Überraschung, Erinnerungen an Birkenau und ein erwartetes Highlight.
August war der letzte Monat, in dem man noch von einer stattfindenden Buchmesse träumen durfte. Dann die erwartbare Absage. Nun bin ich gespannt, was die Stadt Frankfurt dennoch an Veranstaltungen bieten wird bzw. bieten kann. Die Unvernunft Vieler lassen die Infektionszahlen gerade wieder so steigen, dass auch das nicht sicher sein kann.
Zum Glück durfte ich im August bei einem wunderschönen Literaturabend dabeisein: in Essen wurde der Autorin Nadine Schneider für „Drei Kilometer“ der Bloggerpreis Das Debüt verliehen. Ich bin sehr glücklich, dass die eigentlich für April geplante Veranstaltung in der Zeche Carl unter freiem Himmel bei bestem Wetter stattfinden konnte. Silvia von Leckerekekse und ich waren von der Jury vertreten, Sarah und Bozena, die durch den Abend führte, vom Team Das Debüt. Ein Abendessen mit der Autorin und Beate von der Buchhandlung Wörter&Töne war der krönende Abschluss eines Abends, der fühlbar machte, auf was wir dieses Jahr weitgehend verzichten müssen.
Das Schöne: Gelesen werden kann immer. Und das habe ich auch fleißig getan. Meine Lektüre im August 2020 war:
Andreas Schäfer – Das Gartenzimmer
Eine Villa im Grunewald, gebaut 1909, als Zentrum des neuen Romans von Andreas Schäfer.
Ein ehrgeiziger Architekt, der 1933 bei den neuen Machthabern in Ungnade fällt.
Die Hausherrin, die während des Krieges geheime, undurchsichtige Vorgänge in ihrem Gartenzimmer erdulden muss.
Eine Gegenwartsebene, in der eine recht zerrüttete Familie mit der Vergangenheit des Hauses leben muss.
Das könnte sehr reizvoll und interessant sein, ist es phasenweise auch. Auch sprachlich gibt es wenig auszusetzen. Dennoch konnte mich das Buch nicht wirklich überzeugen. Die Verschränkung der Zeitebenen ist zu wenig zwingend und die Vorgänge während der Nazizeit blieben für mich ein Fremdkörper.
Seweryna Szmaglewska – Die Frauen von Birkenau
Im Januar dieses Jahres jährte sich der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal. Die Corona-Krise war da noch nicht in unser Bewusstsein gedrungen. Spätestens ab März hat sie aber dermaßen unseren Alltag und unsere Gedanken beherrscht, dass für Vieles kein Platz mehr darin war. Zum Beispiel für die hervorragende Ausstellung „Survivors – Faces of life after the Holocaust“ auf der Zeche Zollverein in Essen, deren Besuch ich im Frühjahr geplant hatte. Glücklicherweise wurde sie coronabedingt verlängert (bis 13.09.) und ich habe es nun geschafft, sie zu besuchen. Eindrückliche Porträts von 75 Überlebenden (von Martin Schoeller, Begleitbuch bei Steidlverlag ) in der grandiosen Kulisse der Mischanlage der Kokerei der Zeche und ein bewegender Begleitfilm – unbedingte Empfehlung. Solltet ihr die Möglichkeit eines Besuchs haben – geht hin!
Zur gleichen Zeit habe ich „Die Frauen von Birkenau“ von Seweryna Szmaglewska gelesen. Die Aufzeichnungen der polnischen politischen Gefangenen Szmaglewska stammen bereits von 1945, wurden unmittelbar nach ihrer geglückten Flucht bei der Liquidierung des Lagers angefertigt und bald in zehn Sprachen übersetzt. Bei den Nürnberger Prozessen wurde die Autorin als Zeugin befragt. Mehr Unmittelbarkeit geht nicht. Bis zur deutschen Übersetzung hat es nun 75 Jahre gedauert. Ein wichtiges Zeugnis, das gerade heute in Zeiten der Geschichtsvergessenheit und der immer weniger werdenden Zeitzeugen unverzichtbar ist.
Manchmal lohnt es sich, auch mal rechts und links vom gewohnten (Lese)weg zu schauen. Der Badische Landwirtschafts-Verlag gehört nicht unbedingt zu den Verlagshäusern, deren Programme ich regelmäßig durchgehe. Aber gerade hier ist im Mai ein sehr schönes Erinnerungsbuch erschienen, das verpasst zu haben ich sehr bedauert hätte. Und dass durch die ganze Corona-Krise sicher nicht besser wahrgenommen wird.
Dabei hätte es das verdient. Valentin Moritz hat in vielen Gesprächen mit seinem 2016 im Alter von 94 Jahren verstorbenen Großvater dessen Erinnerungen an sein Leben im badischen Süden, seine Zeit im Krieg und als Familienoberhaupt einer weitläufigen Großfamilie aufgezeichnet. Und darüber hinaus über seine eigene Landjugend, die „Flucht“ nach Berlin und die letzten Jahre mit seinem Großvater nachgedacht.
Ein liebevolles Porträt eines widerständigen, eigenwilligen, geliebten Menschen und ein Erinnerungsbuch über Herkunft, Heimat, familiäre Bindungen.
Auf jeden Fall einen Blick wert.
Ray Bradburys dystopischen Klassiker von 1953 nicht gelesen zu haben, gehörte bisher zu meinen Bildungslücken. Dabei geht es hier um die Verfolgung und Vernichtung von Büchern und ihren Lesern in einem Staat, der seine Bewohner durch permanenten Konsum trivialer Medien und Drogen entmündigt, eigenständiges Denken verfolgt und einen Feuermann, der dagegen rebelliert. Sicher zurecht ein Klassiker, jetzt in neuer Übersetzung. Dennoch war ich recht enttäuscht. Der Zahn der Zeit hat doch recht intensiv an diesem Buch genagt. Die Vision erschien mir genau wie die Umsetzung und die sprachliche Gestaltung doch etwas schlicht. Bildungslücke geschlossen, aber kein neues Lieblingsbuch gewonnen.
Jean-Paul Dubois – Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise
Sanft enttäuscht war ich vom Prix Goncourt Preisträger 2019, Jean-Paul Dubois mit Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise. Wunderbar, das der Verlag den sperrigen Titel aus dem Französischen übernommen hat und nicht irgendetwas marktgängigeres gewählt hat. Er passt seht gut zu dieser melancholisch bis witzig erzählten Geschichte.
Erzählt wird von Paul, der in Montréal im Gefängnis sitzt, sich dort die Zelle mit einem verurteilten Hells Angel teilt, den Tod seiner drei Liebsten betrauert und auf sein bisheriges Leben zurückblickt.
Als Sohn eines dänischen Pastors und einer wilden französischen Kinobetreiberin, die so gut zusammenpassten wie es klingt, in Toulouse geboren, geht er nach der Trennung der Eltern mit dem Vater nach Kanada. Dort arbeitet er viele Jahre als Hausmeister und Mann für Alles in einer Wohnanlage für betuchtere Senioren. Bis irgendwann sein Leben auseinanderbricht.
Das ist eine schöne Geschichte, auch schön erzählt. Mir war sie aber doch zu vorhersehbar, die ein wenig aufgebaute Spannung verpuffte am Ende und die Charaktere waren wenig ambivalent. Ganz nett, aber für den bedeutendsten französischen Literaturpreis für mich persönlich dann doch enttäuschend.
Manuel Vilas – Die Reise nach Ordesa
Spanische Literatur macht sich auf dem deutschen Buchmarkt in letzter Zeit ein wenig rar. Durch die Corona-Krise wurde auch der geplante Spanien-Gastlandauftritt 2021 um ein Jahr nach hinten geschoben. Umso mehr freue ich mich über Neuerscheinungen. Manuel Vilas landete mit Die Reise nach Ordesa einen vielbeachteten Bestseller nicht nur in Spanien. Einigermaßen verwunderlich, denn das Buch macht es seinen Leser*innen einigermaßen schwer. Autobiografisch, autofiktional gedenkt der Autor seiner verstorbenen Eltern, seiner gescheiterten Ehe, der fragilen Bindung zu seinen heranwachsenden Söhnen, seiner Alkoholprobleme. Von der Lyrik her kommend, ist die Erzählweise stark assoziativ, fragmentarisch, sprunghaft, poetisch, entwickelt zwar erst nach und nach, dann aber einen regelrechten Sog. Wirklich abschließend kann ich über dieses Buch auch Tage nach der Lektüre nicht urteilen. Was nicht unbedingt negativ sein muss.
Am 1. September wurde die französische Autorin Annie Ernaux 80 Jahre alt. Ihre autobiografischen Texte sind mittlerweile zu großen Teilen auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen – in teils deutlich abweichender Reihenfolge. Zuerst erschien aufgrund seiner Popularität das relativ späte Die Jahre. Da Annie Ernaux mit ihren stark soziologisch geprägten, analytischen Texten auch bei uns mittlerweile eine große Leser*innenschaft besitzt, folgten auch andere Texte. Nach ihren Erinnerungen eines Mädchens waren das die Bücher über ihre Eltern, Der Platz und Eine Frau. Nun erschien Die Scham von 1997. Und auch, wenn man denkt, schon viel über das Leben und vor allem die Jugend von Ernaux gelesen zu haben, packt dieser Text erneut. Das sehr ärmliche und für Annie stets schamerfüllte Leben im Elternhaus in Yvetot wird unmittelbar fühlbar, die Kleinstadt, das katholische Pensionat. Wieder ein dichter Text auf nur wenig mehr als 100 Seiten. Wieder ein Text, der meine Bewunderung bestätigt.
Das war meine Lektüre im August 2020. Die Herbstproduktion der Verlage liegt nun weitestgehend vor. Viel Lesestoff liegt bereit. Bücher, die es wegen der fehlenden Buchmesse und der Reduzierung von Veranstaltungen sicher schwerer haben werden als solche aus vergangenen Herbstproduktionen. Ich freue mich darauf, in den nächsten Monaten hier einige vorstellen zu dürfen. Bleibt dran!
Danke für die Tipps
Sehr gerne!