Annie Ernaux – Scham

Am 1. September wurde die französische Autorin Annie Ernaux 80 Jahre alt. Ihre autobiografischen Texte sind mittlerweile zu großen Teilen auch auf Deutsch erschienen – allerdings in abweichender Reihenfolge. Zuerst erschien aufgrund seiner Popularität das relativ späte Die Jahre (Original 2008). Da Annie Ernaux mit ihren stark soziologisch geprägten, analytischen Texten auch bei uns mittlerweile eine große Leser:innenschaft besitzt, folgten auch andere Texte. Nach ihren Erinnerungen eines Mädchens (2018, Original 2016) waren das die Bücher über ihre Eltern, Der Platz (2019, Original 1983) und Eine Frau (2019, Original 1988), nun erschien Die Scham von 1997. Und auch, wenn man denkt, schon viel über das Leben und vor allem die Jugend von Annie Ernaux gelesen zu haben, packt Die Scham erneut.

Schreibanlass ist wie bereits in den Erinnerungen eines Mädchens ein Ereignis, das die Autorin einst tief erschütterte und das sie ihr Leben lang mit sich herumtrug, ohne darüber sprechen oder schreiben zu können. Es ist ein Ereignis aus dem Jahr 1952, das ganz massiv zum Gefühl der Scham beitrug, das Annie Ernaux als ihr Leben prägend bezeichnet. Scham vor ihrer Herkunft, ihrer Abstammung, ihrem Elternhaus, der dort herrschenden Armut und Beschränktheit.

„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“

Ein ungeheuerliches Erlebnis

Mit diesem Knall beginnt das gewohnt schmale Buch. Die zwölfjährige Annie kehrt gerade von der Sonntagsmesse zurück, die Eltern haben wie so oft Streit, es wird laut, dann ruft die Mutter um Hilfe. Als Annie dazukommt, steht der Vater mit erhobenem Beil über der Mutter, lässt beim Erscheinen der Tochter aber von ihr ab. Was geschieht dann? Das ist genauso verwunderlich wie die Gewaltexplosion beim eher ruhigen Vater.

„Meine Mutter murmelte: „Komm, es ist vorbei.“ Hinterher machten wir zu dritt eine Radtour aufs Land. Nach unserer Rückkehr öffneten meine Eltern wie jeden Sonntagabend die Kneipe. Wir haben nie wieder über den Vorfall gesprochen.“

Nun aber will Annie Ernaux darüber schreiben. Darüber, was es für sie bedeutet hat, aus diesem Elternhaus zu stammen. Auch wenn vieles bereits in den vorhergegangenen Büchern erzählt wurde, wird die Armut der Familie hier erst so richtig deutlich, jedenfalls für mich. Ständige Geldsorgen, keine Toilette im Haus, Eltern, die fast ununterbrochen im Laden und der angegliederten Gaststätte arbeiten. Dazu die Mutter, die nach Höherem strebt, der schweigende Vater, die unglückliche Ehe. Annie, die durch gute schulische Leistungen und das Engagement ihrer Mutter ins katholische Pensionat aufgenommen wurde, leidet, wenn sie sich mit ihren bessergestellten Mitschülerinnen vergleicht, empfindet tiefe Scham.

Annie Ernaux erzählt auch in Die Scham bekannt knapp, nüchtern, analytisch und schafft erneut einen dichten Text, ein Meisterstück der Selbstanalyse. Auf der Umschlagsbanderole verkündet ein Zitat aus der Frankfurter Rundschau: „An den Büchern von Annie Ernaux führt kein Weg vorbei.“ Ganz richtig!

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Annie Ernaux - Die Scham.

Annie Ernaux – Scham
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Bibliothek Suhrkamp 1517 August 2020, Gebunden, 110 Seiten,  € 18,00

Ein Gedanke zu „Annie Ernaux – Scham

  1. Für mich war „Die Scham“ das erste Buch, das ich von Annie Ernaux las. Und ich fand es so gut, dass ich mir ihre anderen Werke auch noch bestellt habe. „Les années“ habe ich auch auf Französisch.

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