Bevor das Corona-Virus so ziemlich alles durcheinanderwirbelte, war Spanien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2021 geplant. Nun heißt es ein weiteres Jahr warten, denn die Auftritte der Gastländer wurden um jeweils ein Jahr nach hinten geschoben. Es bleibt zu hoffen, dass bis dahin die Anzahl der Veröffentlichungen aus den spanischen Sprachen (das heißt vor allem aus dem Kastilischen und Katalanischen) deutlich ansteigt. Bisher werden gefühlt noch mehr Romane aus dem südamerikanischen Spanisch übersetzt als aus dem Mutterland selbst. Warum sich der deutsche Buchmarkt mit Literatur aus Spanien so schwer tut, wäre der Untersuchung wert. Einer der 2020 erstmals auf Deutsch erschienenen Romane ist „Die Reise nach Ordesa“ von Manuel Vilas. Um es gleich vorweg zu nehmen: Er hat es der Leserin nicht leicht gemacht.
Der 1962 im kleinen Städtchen Barbastro im nordspanischen Aragon geborene Schriftsteller und Journalist Manuel Vilas gilt in Spanien als einer der großen Dichter seiner Generation. Lyrik veröffentlicht er seit 1982, der erste seiner inzwischen sechs Romane erschien 2008. Dass Manuel Vilas von der Lyrik her kommt, merkt man auch „Die Reise nach Ordesa“ an, das in Spanien 2018 ein Bestseller wurde.
Tiefe Erschütterung
Der Roman ist stark autobiografisch geprägt und rührt von einer tiefen Erschütterung des Autors her. Es ist die Scheidung von der Mutter seiner zwei Söhne und der zur gleichen Zeit erfolgte Tod der eigenen Mutter, die ihn aus der Bahn werfen. Von Psychopharmaka ist die Rede und von ernsthaften Alkoholproblemen. Für den Erzähler ist der Verlust der geliebten Menschen und der familiären Bindungen der Anlass, über seine Kindheit und vor allem sein Elternhaus nachzudenken. Besonders der schon fast zehn Jahre früher gestorbene Vater erhält in diesem Buch, das auch ein wenig ein Requiem ist, viel Raum. Es sind die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, die eine besondere Intensität für den Autor haben, die späten Jahre der Franco-Diktatur.
In diese Zeit fällt auch ein Ausflug mit den Eltern 1969, der dem Buch seinen Namen gab. Der Vater fährt mit Frau und den beiden Söhnen mit dem Familien-Seat in den Ordesa-Nationalpark in den Pyrenäen. Der zum Unesco-Weltnaturerbe gehörende dortige Monte Perdido, der verlorene Berg, ist von atemberaubender Schönheit und wird für den heranwachsenden Manuel Vilas zu einem Sehnsuchtsort, an den er später mit seinen eigenen Söhnen zurückkehrt. Der andere „Monte Perdido“ ist für ihn der Vater, in dessen Schutz zurückzukehren ihm nach dessen Tod nicht mehr möglich ist.
„In Ordesa, einem Ort inmitten der Berge, und die Erinnerung daran war gelb. Die Farbe Gelb besetzte den Namen Ordesa, und hinter Ordesa zeichnete sich die Figur meines Vaters im Sommer 1969 ab. Ein Geisteszustand, der ein Ort ist. Ordesa. Und außerdem eine Farbe: Gelb“
Die Eltern
Die starke Fixierung des erwachsenen Autors auf seine Eltern verwirrt zunächst ein wenig. Immer wieder wird die große Liebe beschworen, die nicht nur der Erzähler für seine Eltern empfindet, sondern auch deren Liebe zu ihm. Dabei ist in der Erzählung von dieser Liebe gar nicht so viel zu spüren. Es sind einfache Menschen, eher rau, kühl und wortkarg. Armut und das Streben nach bescheidenem Wohlstand prägen ihr Leben. Und der Katholizismus. Seine „schöne“, „barbarische“ Mutter steht vielem erschreckend gleichgültig gegenüber, besonders auch der Politik, geschichtlichen oder kulturellen Gegebenheiten.
Der Vater ist Handelsvertreter für Stoffe, reist viel, sitzt ansonsten am liebsten vor dem Fernseher. Zum Rest der Familie besteht kaum Kontakt, die Großeltern sind Manuel Vilas nahezu unbekannt. Fotos existieren in der Familie nicht. Die Eltern erscheinen ungebildet und verschlossen, zu Vertraulichkeiten oder gar Zärtlichkeiten kommt es kaum. Und doch beschwört der Erzähler fast verzweifelt immer wieder die „große Liebe“ seiner Eltern zu ihm herauf. Ein Versuch, Halt zu finden?
Die Beziehung zu den eigenen heranwachsenden Söhnen ist nach der Scheidung von deren Mutter eher fragil. Dass der Erzähler darunter leidet wird deutlich, was er unternimmt, um das zu ändern eher nicht.
Rhythmus
Es ist aber weniger die durchaus schwierige Persönlichkeit des Erzählers, die einen leichten Zugang zu „Die Reise nach Ordesa“ zunächst erschwert. Es dauert ein wenig, bis man sich in den Erzählrhythmus hineinfindet. 157 kurze Kapitel, in denen sprunghaft, stockend, manchmal kreisend erzählt wird, manchmal klagend und voller Wut, manchmal bildhaft und poetisch, manchmal bissig und witzig. Kleine Bruchstücke, die sich die Leserin zusammensetzen muss, ein Erzählfluss, der stark musikalisch geprägt ist, der mit Variationen und Wiederholungen arbeitet, der die Affinität des Autors zur Musik offenbart.
Die Figuren seiner Erzählung werden von ihm mit Musikernamen versehen, so ist sein Vater Johann Sebastian Bach, die Mutter Wagner, die Söhne Brahms und Vivaldi, der verrückte Onkel Monteverdi. Bezüge bleiben Musikkennern sicher nicht verborgen. Und doch erschwert auch dieses Stilmittel ein wenig den Zugang zur Geschichte. Man muss sich schon einlassen wollen auf diese Erzählweise, sich von ihrem Rhythmus mitnehmen lassen. Das fiel mir zugegebenermaßen zunächst schwer. Irgendwann aber gelang es dem Text dann doch. Und dann wird die große Tragik, die Verzweiflung, aber auch die Hoffnung, die in der Geschichte steckt, greifbar. Und das ist ein Gewinn.
Beitragsbild: Ordesa Monte Perdido by Ignacio Ruiz auf Pixabay
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