Der französische Autor Sorj Chalandon hat (nicht nur) mich im vergangenen Jahr mit seinem Roman Am Tag davor sehr begeistert, ein Grund für mich, mir auch sein neues Buch Wilde Freude anzuschauen. Und das, obwohl das in den Vorschauen annoncierte Cover, das vier Frauen von hinten/oben in pastellfarbener Umgebung zeigt, mich so gar nicht ansprach. Ein Cover, das so sehr nach „Frauenroman“ schreit, dass ich es ohne den Autor zu kennen, sicher nicht angeschaut hätte. Dem Verlag scheinen auch Bedenken gekommen zu sein, denn nun liegt das Buch mit einem gänzlich anderen Titelbild – reine Schriftgestaltung in starken, feurigen Farben – vor.
Eine gute Entscheidung. Denn wenn die Hauptprotagonisten auch vier Frauen sind, die sich mit typisch weiblichen Krebserkrankungen herumschlagen müssen, die Männer hier meist ein äußerst armseliges Bild abgeben und es um weibliche Selbstermächtigung und Solidarität geht, handelt es sich um alles andere als einen sentimentalen oder gar trivialen Roman.
Dramatische Diagnose
Zunächst einmal ist es erstaunlich, wie tief und unangestrengt sich der Autor in die Seelen seiner weiblichen Figuren hineinversetzen kann. Ich-Erzählerin ist Jeanne Hervineau, eine 39jährige Buchhändlerin in Paris, stets freundlich, zuverlässig und bescheiden, der eines Tages die Diagnose Brustkrebs verkündet wird. Ihr Mann, der schöne Matt, ist stets auf Achse, Geschäftsreisen hier, Meetings und Abendessen da. Das will er trotz Jeannes Krankheit auch nicht ändern. Überhaupt findet er schon die Diagnose und erst recht die Auswirkungen von Krankheit und Therapie – Haarausfall, Körpergeruch, Nachtschweiß – abstoßend. Er „schafft das nicht“, ihm ist die Krankheit „zu viel“.
Gut, dass Jeanne während ihrer Chemotherapiesitzungen die zupackende Brigitte und deren Lebenspartnerin Assia kennenlernt. Bei den beiden kann sie unterschlüpfen, bekommt die Unterstützung und Solidarität, die Matt ihr nicht geben mag. Auch die jungen Mélody ist bereits bei den beiden eingezogen. Auch sie wurde von einem Mann enttäuscht. Der Vater ihrer Tochter hat diese in seine Heimat Russland entführt und fordert nun 100.000 Euro für ihre Rückkehr. An die todkranken Frauen verleihen die Banken kein Geld und so kommt Brigitte auf eine waghalsige Idee: ein Überfall auf einen Edeljuwelier an der Place Vendôme. Aber kann ein solch waghalsiger Plan aufgehen? Und was dann?
Einfühlsame Geschichte
Aus der völlig ohne Sentimentalitäten oder gar Kitsch erzählten Geschichte über drei krebskranke Frauen, die so einfühlsam gegenüber den Gefühlen der Protagonistinnen wie schonungslos ist, entwickelt sich tatsächlich noch zu einem veritablen Heist-Movie mit überraschendem Ende. Sorj Chalandon erzählt Wilde Freude mit viel Humor, ein wenig Ironie und mit sehr viel Liebe zu seinen Protagonistinnen. Er ist Journalist und Reporter, daher rührt der klare, nüchterne Erzählstil. Viel Authentizität mag auch daher kommen, dass sowohl er als auch seine Frau 2018 kurz hintereinander Krebsdiagnosen erhielten. So ist ihm ein mitreißendes, ehrliches Buch über vier Frauen gelungen. Viel mehr als nur ein „Frauenroman“.
Marius hat auf Buch-Haltung das Buch ebenfalls besprochen
Beitragsbild: Plâce Vendôme by Matthias v.d. Elbe / CC BY-SA via Wikimedia Commons
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Sorj Chalandon – Wilde Freude
Aus dem Französischen von Brigitte Große
dtv August 2020, gebunden, 288 Seiten, € 22,00