Das Geschenk des Lebens – um seine Fragilität drehen sich die drei Handlungsstränge im neuen Roman der Kanadierin Sarah Leipciger, der erste der mit ihrer Familie in London lebenden Autorin, der auf Deutsch vorliegt.
Drei Geschichten, drei Protagonist:innen, drei ganz unterschiedliche Handlungszeiten, Handlungsorte und Erzählperspektiven. Und viele Verknüpfungspunkte. So geht es in allen drei Geschichten um das, was das Geschenk des Lebens erst möglich macht, um das Atmen, das Luftholen, aber auch um das Gegenteil, das Ersticken, das Ertrinken und im Zusammenhang damit um das Element Wasser, in dem ein Atmen für uns nicht möglich ist. Coming up for air – so der englische Originaltitel.
L´Inconnue de la seine
Da ist zunächst die junge Frau von 1899, die das Buch mit dem Satz „So bin ich ertrunken“ eröffnet und deren Antlitz das Buch so vorteilhaft ziert. Als L´Inconnue de la Seine ist sie eine historische Person und unsterblich geworden. Denn ein trauriger Zufall wollte es, dass ein Seineschiffer die Selbstmörderin am Pont Alexandre III unmittelbar nach ihrem Ertrinken birgt, bevor der Fluss sie entstellen konnte.
Ihr friedlich lächelndes Gesicht hat daraufhin einen Mitarbeiter des Leichenschauhauses, das damals ein rechte Attraktion mit nahezu Volksfestcharakter gehabt zu haben scheint, derart bezaubert, dass er einen befreundeten Moulagenmacher – Moulagen, das sind Abformungen von Körperteilen – dazu überredet, von der Unbekannten eine Totenmaske anzufertigen. Das gelingt so gut, dass das Modell zu einem beliebten Dekorationsobjekt in Wohnungen der Jahrhundertwende wurde, vornehmlich bei der Bohème. Rainer Maria Rilke, Louis Aragon und Albert Camus sind nur einige Schriftsteller, die von der Inconnue fasziniert waren. Auch heute noch kann man Reproduktionen ihrer Maske in Paris erwerben.
Wie im Anfangssatz deutlich wird, erzählt die rätselhafte Unbekannte, deren Identität nie geklärt wurde, ihre Geschichte rückblickend selbst. Es ist die alte Geschichte von Armut, verstorbenen Eltern, einer bösen Tante, einer ungewollten Schwangerschaft und, etwas unkonventioneller, einer großen gleichgeschlechtlichen Liebe und deren Enttäuschung. Insgesamt fand ich diese Geschichte am schwächsten, obwohl die Erzählperspektive einer Toten durchaus reizvoll war. Historisches Pariser Flair kam leider nur ansatzweise auf, insgesamt alles etwas zu vorhersehbar.
Resusci-Anne
Der zweite Strang erzählt von dem norwegischen Spielzeugmacher Pieter und spielt bis auf eine kurze Kindheitsszene 1921 zwischen 1951 und 1959. Pieter spricht in seinen Kapiteln seinen 1955 mit vier Jahren ertrunkenen Sohn an, erzählt von seinem Leben, dem Leben der Familie vor und nach dem Verlust. Abgesehen vom Motiv des Ertrinkens verbindet Sarah Leipciger durch die 1959 von Pieter konstruierte Beatmungspuppe diese Erzählebene mit dem großen Überthema von Das Geschenk des Lebens.
Pieter ist eine fiktive Person, sehr stark aber an den Norweger Asmund Laerdal angelehnt, der mit dem „Vater der cardiopulmonalen Reanimation“, dem US-amerikanischen Anästhesisten Peter Safar, die Resusci-Anne entwickelte. Diese Puppe in Form eines menschlichen Körpers (manchmal auch nur des Torsos) versah er mit den Zügen der Inconnue de la Seine, an der seitdem Generationen die Mund-zu-Mund-Beatmung üben. Und dessen zweijähriger Sohn ebenfalls ertrank.
Anouk und Nora
Der dritte Strang erzählt von zwei Frauen, Mutter und Tochter, Nora und Anouk, und ist am kanadischen Ottawa River angesiedelt. 2017 feiert Anouk ihren vierzigsten Geburtstag, ein Alter, das sie eigentlich gar nicht unbedingt erwarten konnte zu erreichen. Denn Anouk ist seit Geburt stark an Mukoviszidose erkrankt, jener Erbkrankheit, die die Lunge lahmlegt, die Patienten meist schon in jungen Jahren ersticken lässt. Hier taucht wieder das Motiv des keine Luft mehr Bekommens, des Ertrinkens auf. Zudem ist Anouk eine Wasserratte, verbringt ihre Zeit am liebsten im nassen Element. Ihre Geschichte und die ihrer Mutter, von deren scheiternder Ehe, dem Tod des Vaters, bei dem Anouk zunächst bleibt, und der Wiederannäherung zwischen Nora und ihr, wird in der dritten Person in Rückblenden erzählt.
Diese Geschichte hat mich am meisten überzeugt. Die schwierige Zeit für die Eltern, das Zerbrechen der Ehe, Anouks eiserner Wille, ihre Hoffnung auf eine Transplantation wird sehr dicht und intensiv erzählt. Sarah Leipciger schafft es eindrucksvoll, die Bedeutung, die Das Geschenk des Lebens gerade für Anouk und ihre Eltern hatte und hat, deutlich zu machen.
Atem, Luft, Wasser – Sarah Leipciger gelingt es immer wieder, wunderbare Naturbilder zu schaffen. Bei aller Poesie bleibt ihre Sprache aber klar und direkt. Pathos findet man ebenso wenig wie Kitsch. Das nimmt sehr für diese drei Geschichten ein. Da fällt es nicht großartig ins Gewicht, dass sie mitunter nur schwach miteinander verknüpft sind. Dass am Ende über die Resusci-Anne noch einmal ein Bogen zur schönen Unbekannten geschlagen werden soll, wirkt leider ein wenig überkonstruiert.
Beitragsbild: L’inconnue de la Seine via Wikimedia Commons
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Sarah Leipciger – Das Geschenk des Lebens
Aus dem Englischen von Andrea O‘Brien
Arche Verlag August 2020, 348 Seiten, gebunden, 24,- €