Brit Bennett – Die verschwindende Hälfte

Die 1990 in Kalifornien geborene Brit Bennett gilt nach ihrem vielbeachteten Essay „I don’t know what to do with good white people“ und ihrem erfolgreichen Debütroman „Die Mütter“ als eine der vielversprechendsten jungen Schriftstellerinnen der USA. Mit ihrem neu erschienenen Buch Die verschwindende Hälfte scheint Brit Bennett einen Roman zur Stunde, einen Beitrag zur Black Lives Matter-Bewegung geschaffen zu haben. In Amerika erschien „The vanishing half“ eine Woche nachdem George Floyd von einem Polizisten getötet wurde.

Brit Bennett erzählt in Die verschwindende Hälfte von Zwillingsmädchen und behandelt das Thema des „Passing“. Dieser Übergang von einer sozialen oder geschlechtlichen Identität in eine selbstgewählte andere, meist ohne dass die Umwelt sich dessen bewusst ist, wurde schon häufiger literarisch bearbeitet. Man denke da an Philip Roths Der menschliche Makel, das Genre der „passing novel“ reicht aber zurück bis ins 19. Jahrhundert, ein wegweisendes Weg erschien 1929, Nella Larsens „Passing“.

Für Brit Bennett wurde das Thema interessant, als sie von ihrer Mutter von Orten in den Südstaaten der USA hörte, in denen seit vielen Generationen BPOC bewusst immer hellhäutigere Partner wählten und so äußerlich „weiße“ Gemeinden entstanden. Die dort herrschende Abneigung gegen Dunkelhäutige stand dem Rassismus vieler Weißer offenbar in nichts nach. Mit der fiktionalen Stadt Mallard schuf Brit Bennett einen solchen Ort als Ausgangspunkt für Die verschwindende Hälfte.

Louisiana 1938

1938 werden die Zwillinge Desiree und Stella Vignes geboren. Beide sind genauso hellhäutig wie die anderen Bewohner Mallards, weiß wie ihre Mutter Adele und ihr Vater Leon. Dessen Hautfarbe bewahrt ihn aber nicht davor, eines Tages von weißen Rassisten gelyncht zu werden. Vor den Augen seiner kleinen Töchter schlagen diese ihn fast tot und vollenden ihr beinahe gescheitertes Werk später im Krankenhaus. Für die beiden Mädchen ein alptraumartiges Erlebnis. Und eines mit weitreichenden Folgen. Die alleinerziehende Mutter muss sich fortan mit Putzjobs durchbringen und die Töchter müssen die Schule verlassen, um sie dabei zu unterstützen. Dabei träumten beide vom College und einem besseren Leben.

Louisiana 1938
Louisiana 1938 Uncredited WPA photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

Sie sind gerade sechzehn Jahre alt, als sie beschließen, heimlich aus Mallard fortzugehen. Zunächst finden sie Arbeit und eine kleine schäbige Wohnung im nahegelegenen New Orleans, Stella sogar eine Arbeit als Sekretärin. Hier wird sie zum ersten Mal „fälschlich“ für eine Weiße gehalten. Ein Irrtum, den sie nicht ausräumt. Eines Tages ist sie verschwunden. Zunächst glaubt Desiree noch, dass ihre Schwester bald wieder zurückkommt. Dann findet sie aber einen Job beim FBI und geht nach Washington. Die Wege der beiden Schwestern trennen sich für viele Jahre.

Desiree und Stella

Die Leser:innen lernen Desiree kennen, als sie 1968 nach Mallard zurückkommt. Sie hat ihren Ehemann Sam, der immer wieder gewalttätig wurde, verlassen und die gemeinsame Tochter Jude mitgenommen. Mutter Adele hat mittlerweile die Leitung von Lou´s Egg House, dem Diner von Mallard übernommen. Sie ist nicht sehr glücklich über Desirees Rückkehr, denn Jude ist wie der Vater sehr dunkelhäutig.

Parallel zu Adeles, Desirees und Judes Leben erfahren wir aber auch von Stella. Diese hat ihren weißen Chef geheiratet – ohne dass dieser von ihrer Abstammung etwas ahnt – und lebt nun in der Welt der Weißen recht begütert. Ihre Tochter Kennedy ist blond und blauäugig wir der Vater. Mehr als Wohlstand und die viel größeren Möglichkeiten, die das Weiß-Sein zu bieten scheint, ist es die Sicherheit die es verspricht, die Stella sucht. Und doch wird sie ihr Leben lang unter ihrer Lüge und ihrer Entscheidung leiden. Auch die Angst vor Entdeckung ist immer präsent.

Unterschiedliche Lebenswelten

Wie zu erwarten, werden sich die beiden Lebenswelten irgendwann wieder begegnen, wenn auch nur flüchtig. Dass Brit Bennett dafür den einen oder anderen Zufall bemüht, ist vielleicht nicht sehr wahrscheinlich, stört aber die authentisch erzählte, um die Fragen „Wer sind wir?“, „Was bestimmt uns?“ und „Können wir eine Andere werden?“ kreisende Geschichte kaum.

Zu dieser zentralen Geschichte der Determinierung durch die Hautfarbe kommt eine weitere Form des „Passing“ hinzu. Jude verliebt sich in Reese, der als Therese Anne Carter geboren wurde. Die Beiden werden ein Paar. Auch diese Art des Wandels einer Person in eine andere wird völlig unspektakulär und sehr einfühlsam geschildert. Nie kommt das Gefühl auf, da müsse künstlich noch ein heißes Thema angesprochen werden. Die Geschichte bleibt immer lebensnah, spannend und gut erzählt. Nach Die Mütter hat Brit Bennett auch mit Die verschwindende Hälfte einen gelungenen Roman vorgelegt.

 

Eine weitere Rezension findet ihr auf Letteraturablog

Beitragsbild: Absecon 49, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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Brit Bennett - Die verschwindende Hälfte

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Brit Bennett – Die verschwindende Hälfte
Übersetzt von: Isabel Bogdanund Robin Detje
Rowohlt Buchverlag September 2020,  416 Seiten, gebunden, € 22,00

2 Gedanken zu „Brit Bennett – Die verschwindende Hälfte

  1. Stelle gerade mit Erschrecken fest, dass ich irgendwie Deine neuen Rezensionen gar nicht mehr im Reader angezeigt bekomme und habe jetzt nochmal sicherheitshalber auf „Folgen“ geklickt (obwohl ich das eigentlich schon seit Jahren tue). Komisch das. *amkopfkratz*

    Einmal mehr übrigens eine tolle Besprechung Deinerseits. Du hast mir den Titel gerade sehr schmackhaft gemacht – obwohl ich den bei der Sichtung der Vorschauen eigentlich „herausgefiltert“ hatte. Jetzt wird er doch auf den Merkzettel wandern. – Und, ich erwähnte es glaube ich schon mal, deine Fotoauswahl finde ich immer richtig klasse. Ich muss gestehen, dazu bin ich meist zu faul. 😉

    Hoffe Dir gehts gut und sende ganz liebe Grüße aus der kriminellen Gasse
    Stefan

    1. Lieber Stefan, schön, dass du wieder vorbeigeschaut hast. Und Danke für Deine lieben Wort. Seitdem ich meinen Blog selbst hoste, habe ich immer wieder Probleme mit dem Reader. Ich habe schon versucht, dran herumzubasteln, habe aber einfach zu wenig Ahnung, fürchte ich. Ich habe gerade einen neuen Beitrag veröffentlicht. Wärst du so lieb und würdest mir eine kurze Rückmeldung geben, ob der in deinem Reader nun aufgetaucht ist? Und darf ich fragen auf welche Weise du mich diesmal abonniert hast? Ich danke dir schon mal vorab!
      Ich hoffe, auch in der kriminellen Gasse sind alle gesund und munter. Mir geht es soweit gut, aber ich muss zugeben, mich belastet die ganze Situation schon etwas. Aber es kommen auch wieder leichtere Zeiten. Bleib gesund und sei lieb gegrüßt! Petra

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