Maggie O´Farrell – Judith und Hamnet

Hamlet ist sicher eines der bekanntesten Dramen William Shakespeares. Darin geht es zentral auch um eine Vater-Sohn-Beziehung. Über seinen Verfasser ist trotz vielfältiger Forschung erstaunlich wenig Gesichertes bekannt. Tatsache ist, dass er einen Sohn hatte, der Hamnet hieß und 1596 gerade elfjährig starb. Die britisch-irische Autorin Maggie O´Farrell macht ihn in ihrem mit dem Women´s Prize for Fiction 2020 prämierten Roman Judith und Hamnet zum Namensgeber des 1601 entstandenen Dramas und erzählt die berührende Geschichte seines Lebens und Sterbens.

Bei Shakespeares zuhause

Im Eingangskapitel begegnen wir dem Jungen in seinem Zuhause. Seine Zwillingsschwester Judith hat sich auf ihrem Strohsack zum Schlafen niedergelegt. Nach dem gemeinsamen Spiel fühlte sie sich plötzlich nicht gut. Hamnet streunt durch den kleinen Anbau, den er mit seiner Mutter Agnes, Judith und der älteren Schwester Susanna bewohnt, über die belebte Straße, den stillen Hinterhof und das größere Nachbarhaus der Großeltern. Niemand scheint da zu sein, außer seinem jähzornigen, oft gewalttätigen Großvater.

Dieser John Shakespeare, einst angesehener freier Landbesitzer und eine Art Bürgermeister im Städtchen Stratford-upon-Avon in der englischen Grafschaft Warwickshire, arbeitet nach dem Verlust von Vermögen und Ansehen, als Handschuhmacher und neigt immer mehr dem Alkohol zu. Maggie O´Farrell zeichnet ihn als verbitterten, bösartigen, nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten Menschen. Ihn macht sie auch verantwortlich für William Shakespeares „Flucht“ nach London. Seit vielen Jahren lebt William fort von seiner Heimatstadt, zunächst als Handelsvertreter für die Handschuhe seines Vaters, später als Schauspieler, Theaterintendant und Dramatiker. Der Plan, seine Frau Agnes und die Kinder nachzuholen, wird nie verwirklicht. Manche Historiker machen dafür Agnes und die ihm „aufgezwungene“ Ehe mit ihr verantwortlich (was perfekt zur Misogynität traditioneller Geschichtsschreibung passt). Maggie O´Farrell erzählt in Judith und Hamnet eine ganz andere Geschichte.

Anne Hathaway
Anne (Agnes) Hathaway JschneiderWiki, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons
Agnes

Für sie ist die Verbindung der 26jährigen Anne „Agnes“ Hathaway, Tochter eines wohlhabenden Grundbesitzers, mit dem erst 18jährigen Lateinlehrer ihrer Halbbrüder eine Liebesheirat, die voreheliche Schwangerschaft von Beiden geplant, um die Ehe gegen den Widerwillen von Agnes Stiefmutter durchzusetzen. Agnes ist die eigentliche Hauptfigur des Romans. Sie wird von Maggie O´Farrell als freigeistige Frau, eigensinnig, hellsichtig und kräuterkundig, warmherzig und selbstbewusst dargestellt. Dem berühmten Dramatiker an ihrer Seite kommt ihm Buch nur eine Nebenrolle zu. O´Farrell zeigt ihn uns als unterdrückten, misshandelten Sohn, als zärtlichen Ehemann und Vater, auch wenn er im Alltag seiner Familie kaum eine Rolle spielt.

William kommt nur sporadisch, für Tage, Wochen, maximal einen Monat nach Hause, meist, wenn in London wieder einmal die Pest wütet, genießt ansonsten das Leben und seinen Erfolg in London. Agnes lässt ihm diese Freiheit, hält ihm, wie so viele Frauen in Geschichte und Gegenwart, den Rücken frei. Sie lebt weiterhin mit den Kindern bei seinen Eltern John und Mary, wenn auch in einem eigenen kleinen, angebauten Haus. Erst Jahre nach Hamnets Tod beziehen sie ein prächtiges, repräsentatives Haus. William Shakespeare ist ohne das Wissen seiner Familie nicht nur zu Ruhm, sondern auch zu Reichtum gekommen.

Während in der Gegenwartsebene der kleine Hamnet verzweifelt nach Hilfe sucht, da es seiner Schwester Judith immer schlechter zu gehen scheint – sie fiebert hoch, deliriert, zeigt beulenartige Verdickungen am Hals und in den Achseln – erfahren wir in eingeschobenen Rückblenden und etlichen Zeitsprüngen über all diese Dinge. Maggie O´Farrell kann sich dabei einiger literarischer Freiheiten bedienen. Über das Leben William Shakespeares ist, wie bereits gesagt, wenig wirklich belegt, es gibt keine Briefe, keine Tagebuchaufzeichnungen, kaum Quellen, selbst sein Geburtsdatum ist nur geschätzt. Es gibt lediglich einen Eintrag ins Kirchenregister vom 26. April 1564.

Shakespeares Haus
Shakespeares Haus in Stratford Upon Avon by John, CC BY 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/2.0>, via Wikimedia Commons
Trauer

Maggie O´Farrell erzählt seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie, besonders aber die seiner mutigen, liebevollen, eigenwilligen Ehefrau Agnes mit viel Empathie, poetisch-zärtlich, niemals kitschig. Als allwissende Erzählerin wechselt sie gekonnt die Zeitebenen, kommt von den Rückblenden immer wieder zur Erzählgegenwart, in der Judith wieder genest, Hamnet aber schwer und schließlich tödlich erkrankt. Sie beschreibt die allumfassenden Trauer, die sein Tod auslöst und die Entfremdung, die zwischen den Eheleuten eintritt, bis zur Entstehung des Dramas Hamlet, dem O´Farrell eine neue Bedeutung hinzufügt. Das liest sich lebendig, atmosphärisch-sinnlich und sehr berührend. Dazu kommt ein Hauch Magisch-Übernatürliches mit Agnes Hellsichtigkeit, ihren Vorahnungen und ihrer Heilkunde und den besonderen Verbindungen, die zwischen den Zwillingen bestehen. Dies wird aber nie dominant.

Maggie O´Farrell ist mit Judith und Hamnet ein Shakespeare-Roman gelungen, in dem der Barde nur eine Nebenrolle spielt und der dennoch einen neuen, bereichernden Blick auf ihn wirft. Und der auch ohne seinen berühmten Protagonisten funktionieren würde und mitreißend und intensiv von Trauer, Liebe, der Vertrautheit von Geschwistern und der Magie des Theaters und der Natur erzählt. Unbedingte Leseempfehlung!

 

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zum Hogarth-Shakespeare-Projekt

Beitragsbild: William Shakespeares Familieunknown german engraver, Public domain, via Wikimedia Commons

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Maggie O´Farrell - Judith und Hamnet.

Maggie O´Farrell – Judith und Hamnet
Übersetzt von: Anne-Kristin Mittag
Piper September 2020, 416 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 22,00

2 Gedanken zu „Maggie O´Farrell – Judith und Hamnet

  1. Eine sehr schöne Besprechung, in der ich mich absolut wiederfinde, und vielen Dank auch fürs Verlinken! 🙂
    Ich fand den Roman ebenfalls unglaublich berührend und für mich zählt er zu den absoluten Lesehöhepunkten in diesem Bücherherbst. Herzliche Grüße und alles Gute für die kommende Zeit – vor allem Gesundheit! Barbara (alias Kulturbowle)

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