Was für eine Geschichte erzählt uns der israelische Schriftsteller David Grossman da in seinem neuen Roman „Was Nina wusste“! Welch einen weiten Bogen spannt er da vom Kibbuz im gegenwärtigen Israel über die nordkroatische Kleinstadt Čakovec vor und während des Zweiten Weltkriegs zur kargen Felseninsel Goli Otok im adriatischen Meer. Dabei macht er noch Stippvisiten an den Polarkreis ins norwegische Tromsø und den Big Apple New York und spannt dazwischen die dramatische, leidenschaftliche Geschichte dreier Frauen – Großmutter, Mutter und Tochter.
Es ist eine wahre Geschichte, die David Grossman für „Was Nina wusste“ als Vorlage diente. Die jugoslawische Jüdin und Kommunistin Eva Panić Nahir stand Pate für die Großmutter Vera im Roman. Die echte Eva ist in Serbien und Israel fast so etwas wie eine Berühmtheit, nachdem der Autor Danilo Kiš eine Biografie von ihr entwarf, die als mehrteilige Fernsehdokumentation unter dem Titel „Naked life“ 1989 erschien. In der Folge wurden noch mehrere Dokumentationen über sie gedreht und eine Biographie veröffentlicht.
(Auf Youtube ist Eva-a documentary unter folgendem Link zu sehen )
Eine wahre Geschichte?
David Grossman war mit Eva Panić Nahir befreundet und sie bat ihn persönlich, ihre Lebensgeschichte in einen Roman zu verwandeln. 2015 verstarb sie fast 97jährig und hat die Entstehung „ihres“ Romans nicht mehr erlebt. Was war nun das Außergewöhnliche an dieser Lebensgeschichte, das auch „Was Nina wusste“ so spektakulär macht?
Die Vera des Romans wuchs wie ihr Vorbild Eva im kleinen Städtchen Čakovec, damals zu Ungarn gehörend, auf. Veras Eltern gehörten zur recht wohlhabenden jüdischen Bevölkerung. Als Vera 18 Jahre alt war, traf sie den serbischen Soldaten Milos Novak – er wurde die Liebe ihres Lebens. Während des Zweiten Weltkrieges schlossen sich die beiden der Partisanenbewegung Titos an, retteten etlichen jüdischen Mitbürgern das Leben. Direkt nach dem Krieg kam Töchterchen Nina zur Welt.
Das Glück dauerte nur bis 1951. Da wurde Milos als vermeintlicher Stalinanhänger verhaftet – der Machtkampf zwischen Tito und Stalin befand sich auf dem Höhepunkt – und nahm sich im Gefängnis das Leben. Vera wurde ebenfalls verhaftet und gezwungen, ihren Mann öffentlich als Verräter zu bezeichnen und sich von ihm loszusagen. Etwas, das die in schon fast fanatischer Liebe zu Milos lebende Vera rundweg ablehnte. Das bedeutete für sie die Internierung auf der Gefängnisinsel Goli Otok. Und die Trennung von ihrer sechsjährigen Tochter Nina.
Eine Entscheidung
Um diese tragische Entscheidung – toter, innig geliebter Mann oder die lebende Tochter – dreht sich ein Großteil des Romans (und der Dokumentationen über Eva). Titos Schergen drohten, Nina auf der Straße leben zu lassen, was aber Vera nicht zum Einknicken brachte. Für sie war ihre Liebe zu Milos das Wichtigste und Heiligste. Daneben zählte ihre Tochter wenig. Das war übrigens bei der realen Eva ebenso und diese Abschnitte in der Filmdokumentation zu sehen ist einigermaßen verstörend.
Wir begegnen Vera und Nina und deren Tochter Gili, die die Ich-Erzählerin des Romans ist, zunächst während des 90. Geburtstags von Vera im israelischen Kibbuz. Nach den drei Jahren auf Goli Otok ist sie nach Israel emigriert, hat hier ihren zweiten Mann Tuvia kennengelernt und mit ihm, dessen Sohn Rafael und Nina eine Familie gegründet. Nina und Rafael wurden auch ein Paar, Gili ist ihre gemeinsame Tochter. Nun treffen sich alle zum großen Festtag. Dass dort Konflikte aufbrechen, besonders zwischen Vera und Nina, aber auch zwischen Nina und Gili – denn auch Nina hat ihre Tochter und Rafael früh verlassen, ist zunächst nach New York, später nach Norwegen geflüchtet – ist vorhersehbar.
Der Film
Gili und Rafael, beides Dokumentarfilmer, wollen einen Film über Vera drehen. Dies bekommt eine besondere Bedeutung, als Nina offenbart, an beginnendem Alzheimer zu leiden. Nun sollen die Aufzeichnungen auch als Erinnerungsspeicher für die Zukunft dienen. Zugleich soll es zur Aussprache über die Vergangenheit kommen. Die Vier machen sich nach der Feier auf die Reise nach Goli Otok. Hier kommt es zum dramatischen Showdown.
Puh, ganz schön viel Stoff und Tragik. Dazu kommt noch, dass Gili selbst, mittlerweile 39 Jahre alt, in einer persönlichen Krise steckt, da ihr Lebenspartner sich ein Kind mit ihr wünscht, sie sich aber wegen ihrer schwierigen Mutter-Tochter-Geschichte nicht dazu imstande sieht. Als wäre der Stoff um Eva Panić Nahir, die dramatische Liebesgeschichte, die grausame Lagerhaft auf Goli Otok, die Trennung von ihrer Tochter, der daraus erwachsende Konflikt nicht schon genug, lädt David Grossman „Was Nina wusste“ noch mit zusätzlichen Themen und Effekten auf und nimmt sich jede ihm von der historischen Person zugestandene literarische Freiheit.
Man kann das ganz gut an der Episode auf Goli Otok erkennen, die im „wirklichen“ Leben der Eva – nachzuschauen in der Dokumentation über diese Reise – bei strahlend blauem Himmel ablief, bei David Grossman aber während eines dramatischen Sturms stattfindet. Nina wird im Roman zur rast- und haltlosen Nymphomanin, tief traumatisiert durch die damalige Entscheidung ihrer Mutter; Gili ist die Tochter der Stiefgeschwister Nina und Rafael und Alzheimer muss dann auch noch dazu kommen.
Zu viel
Das ist mir persönlich zu viel. Definitiv. Die Geschichte ist an sich schon spektakulär genug. Die Entscheidung toter Mann – lebende Tochter birgt genug Dramatik. Ebenso die glühende Liebesgeschichte, die Partisanengeschichte, die grausame Inhaftierung auf Goli Otok. Das hätte genug an Stoff ergeben.
Ohne Zweifel ist David Grossman ein großer Autor, der Gegenwart und Vergangenheit kunstvoll ineinanderschieben kann, der mithilfe des Filmmotivs Blickwinkel wie durch die Kamera ändern, Positionen überdenken lässt. Das Generationen überspannende Leid des Totalitarismus im 20. Jahrhundert wird im Roman so deutlich wie das Leid, das die bedingungslose Liebe Veras über ihre Tochter gebracht hat. Auch die Vererbung traumatischer Erfahrungen innerhalb einer Familie wird beklemmend spürbar. David Grossman ist nah und empathisch dran an seinen Figuren, ohne die kritische Distanz zu verlieren. Auch Dialoge kann er hervorragend konstruieren. (Der kroatisch geprägte Zungenschlag Veras, bestimmt hervorragend übertragen von der Übersetzerin Anne Birkenhauer, wurde mir aber tatsächlich auch manchmal zu viel.)
Zu viel – das ist das entscheidende Stichwort. Dieser Roman ist mir in vetlichem einfach zu viel – zu viel Dramatik, Gefühle, Koinzidenzen. Ein wenig weniger wäre wunderbar gewesen. Auch sprachlich. Da führte die zeitweise sehr ordinäre Sprache von Gili dazu, die Figur für mich unglaubwürdig zu machen. Schade. Denn das sind schon eine großartige Geschichte und ein atemberaubender Konflikt, die David Grossman in Was Nina wusste erzählt. Und auch ein wunderbares Fazit. Denn es ist das Erzählen, was letztendlich die Figuren rettet. Sich gegenseitig die eigenen Geschichten zu erzählen, einander zuzuhören.
Große Empfehlung: David Grossman – Kommt ein Pferd in die Bar
Beitragsbild: by Xandroid (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr
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David Grossman – Was Nina wusste
übersetzt aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Hanser Verlag August 2020, fester Einband, 352 Seiten, 25,00 €