Meine Lektüre im November 2020 war zeitweise mit einem kleinen Anflug von Panik begleitet. Der Bücherstapel mit Frühjahrs/Sommertiteln schmilzt nur langsam (obwohl ich viel, gern und ausdauernd lese) und gleichzeitig trudeln schon wieder die Vorschauen für das Frühjahr 2021 herein (ja, ich lasse mich tatsächlich immer noch durch so etwas leicht stressen – hoffnungsloser Fall 😉 ). Ende des Monats wurden dann auch die fünf Romane bekanntgegeben, die um den diesjährigen Bloggerpreis Das Debüt konkurrieren. Das bedeutet nochmal mehr Lesepensum. Zum Glück waren/sind fast alle Bücher, und das galt auch für die Lektüre im November 2020, des Lesens wert. Mittlerweile schrecke ich aber auch vor dem Abbruch eines Buches (zugegeben nur im Extremfall) nicht zurück.
Folgende Bücher bildeten meine Lektüre im November 2020:
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Ein abgeschiedenes Dorf im Nordosten Islands, eine kleine Dorfgemeinde und ein reicher Hotelbesitzer, der plötzlich verschwindet. Eine große Blutlache im eisigen Schnee, ein Polarfuchs – und Kalmann.
Kalmann liebt Gammelhai – eine mehr als merkwürdige isländische Spezialität -, seinen die Wirklichkeit mehr und mehr verlierenden Großvater im Seniorenheim, Chips, Popcorn und Cola vor dem Fernseher und sein beschauliches Leben in Raufarhöfn. Kalmann ist anders, langsamer, kindlich, ein wenig ver-rückt. Und er ist der Erzähler des Buchs, was der besondere Reiz dieser Geschichte ist, die nur in zweiter, aber keineswegs zu verachtender Linie ein spannender Krimi ist.
Tayari Jones – Das zweitbeste Leben
Tayari Jones erzählt in das zweitbeste Leben eine ungewöhnliche Familien- und Coming of age-Geschichte. Ein Mann, zwei Familien, zwei heranwachsende, etwa gleichaltrige Töchter – James Witherspoon ist Bigamist. Und gleichzeitig kein wirklich schlechter Mensch. Eher einer, der gar nicht wirklich merkt, was er anrichtet, sich sogar noch gut fühlt, weil er für seine inoffizielle Familie „Verantwortung“ übernimmt. Toxische Männlichkeit in den USA der 1980er Jahre. Die Schwarze Community von Atlanta zeichnet sich durch eine erstaunenswerte Abwesenheit von Vätern aus. Und auch James „Verantwortung“ besteht lediglich in Geldzuwendungen und einem gemeinsamen Abendessen jeden Mittwoch. Dana weiß, dass sie ein Geheimnis ist – was es für sie nicht einfacher macht. Ihre Halbschwester Chaurisse ahnt wie ihre Mutter nichts.
Die Geschichte wird in zwei Hälften einmal von Dana, einmal von Chaurisse erzählt. Es ist von Anfang an klar, dass sich die beiden begegnen und der große Betrug auffliegen wird. Spannend bleibt es trotzdem und die Verschiebung der Perspektiven machen das rundum gelungene Buch besonders interessant.
Olga Tokarczuk – Letzte Geschichten
Letzte Geschichten von Olga Tokarczuk erzählen von drei Frauen, die sich eigentlich sehr nah sein sollten, die aber seltsam isoliert sind.
Ida, Parka und Maja sind Mutter, Großmutter und Tochter. Nicht allein, dass sie sich in den drei Geschichten nicht begegnen und auch sonst kaum eine Rolle spielen, die Erzählungen spielen auch auf verschiedenen Zeitebenen
Ida ist auf tief verschneiten Straßen unterwegs zu ihrem Elternhaus in Südpolen, das sie nach dem Tod ihrer Mutter Parka nicht mehr besucht hat. Nach einem Unfall auf eisglatter Fahrbahn findet sie Unterkunft bei einem alten Ehepaar, das eine Art Tiergnadenhof betreibt, und fällt ein wenig aus der Zeit.
In der zweiten Geschichte lebt Parka noch und ist in ihrem total eingeschneiten Haus von der Umwelt abgeschnitten. Petro, ihr Mann ist gerade gestorben und liegt im eisigen Wintergarten aufgebahrt. Parkas Gedanken reisen in die Vergangenheit.
In der letzten Geschichte begleiten wir Maja und ihren kleinen Sohn auf eine Südseeinsel. Maja ist Reisejournalistin und auch sie scheint aus der Zeit gefallen zu sein.
Die von Olga Tokarczuk gewohnte Mischung aus Erzählung und fast essayistischen Passagen. Ich bin wie immer sehr fasziniert davon, auch wenn ich zwischendurch immer wieder ein wenig hadere. Wer Unrast mochte, wird auch die Letzten Geschichten lieben. Wem Unrast zu disparat war, sollte es hiermit nochmal versuchen. Olga Tokarczuk ist großartig.
Sebastian Barry – Tausend Monde
Tennessee in den 1870er Jahren. Der Amerikanische Bürgerkrieg ist erst seit Kurzem beendet. Die Gesellschaft ist aber noch tief gespalten. Die Sklaverei ist offiziell abgeschafft und die Staaten befriedet und wieder vereinigt. Aber es ziehen immer noch marodierende Banden durch die Lande, viele der Südstaatenbewohner wollen sich mit der Niederlage nicht abfinden – und schon gar nicht der Schwarzen Bevölkerung gleiche Rechte zugestehen. Noch unter der Schwarzen steht die indigene Bevölkerung, mit den „übriggebliebenen“ Native Americans konnte man quasi umgehen, wie es einem beliebte. Sie waren faktisch rechtlos. Man könnte die ehemaligen Unionssoldaten Thomas McNulty und John Cole und deren Adoptivtochter, das Lakota-Mädchen Winona, vom Vorgängerroman Tage ohne Ende kennen, wo Winona ihre komplette Familie und ihren Stamm bei einem Massaker durch Soldaten verliert. Das schwule Paar bereitet ihr ein liebevolles Zuhause, kann sie aber kaum vor Diskriminierungen schützen. Und auch nicht vor einer Vergewaltigung. Barry schreibt eine großartige Geschichte über den „Wilden Westen“, der auch in Tennessee beheimatet sein konnte, und über Rache. Auch ohne Kenntnis von Tage ohne Ende sehr gut lesbar.
Auch die First Nations Kanadas haben bis auf den heutigen Tag mit Diskriminierungen zu kämpfen. Erst in jüngster Zeit wurden die Grausamkeiten der sogenannten „Residential Schools“ breiter bekannt, in denen den Kinder ihre Kultur und Sprache „aberzogen“ werden sollten. Taqawan spielt in den 1980er Jahren in der Nähe von Québec. Hier leben die Mi´gmaq in Reservaten. Und hier sollen ihnen die Fangrechte für Lachs – den Taqawan -entzogen werden, vorgeblich aus Naturschutzgründen. In der brodelnden Atmosphäre wird die junge Mi´gmaq Océane vergewaltigt. Nur der ehemalige Ranger Leclerc scheint sich für den Fall und das Mädchen, das alsbald in größte Gefahr gerät, zu interessieren.
Tolle Mischung aus spannendem Krimiplot, der sich allerdings nur langsam entfaltet, um dann in einem Show-Down zu enden, und Wissenswertem über die Kolonisierung Kanadas, dieKultur, Lebenswirklichkeit und Schwierigkeiten der First Nations.
Joachim Meyerhoff – Hamster im hinteren Stromgebiet
Leider war ich erneut sehr enttäuscht von einem meiner ehemaligen Helden. Bereits sein vorheriges Buch konnte mich überhaupt nicht überzeugen und auch die Hamster im hinteren Stromgebiet konnten nur leicht bessere Werte erzielen. Hier erzählt der Schauspieler vom Schlaganfall, der ihn 2018, gerade einmal 51jährig, ereilte. Zwar gibt es auch hier sehr lustige Szenen und auch Berührendes, wie die Schilderung einer Wanderung mit seinem Bruder durch Norwegen, in der Mehrzahl fand ich die meisten Episoden aber abwechselnd indiskret, peinlich oder ärgerlich. Ich schließe mich leider der Vermutung an, dass Joachim Meyerhoff eine größere zeitliche Distanz zum Erzählten gut tut. Und denke mit Freude an die ersten drei Teile der Alle Toten fliegen hoch-Reihe zurück. All time favs.
Joachim Meyerhoff – Alle Toten fliegen hoch
Joachim Meyerhoff – Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Joachim Meyerhoff – Die Zweisamkeit der Einzelgänger
Isabella Hammad – Der Fremde aus Paris
Auch Der Fremde aus Paris hat mich leicht enttäuscht. Im englischsprachigen Raum gab es sehr gute Kritiken für diese in Palästina spielende Familiengeschichte. Von der Mandatszeit der Briten seit dem Ersten Weltkrieg ausgehend erzählt er von Midhat Kamal und seiner wohlhabenden Familie. Der Vater ist Tuchhändler und will, dass Midhat Medizin studiert. Dafür finanziert er seinem Sohn ein Studium in Montpellier, das dieser aber bald für ein Geschichtsstudium in Paris aufgibt. Bei seiner Rückkehr wird er zum „Fremden aus Paris“. Und so ausgeschlossen er sich in Frankreich fühlte, so fremd ist er fortan auch im eigenen Land. Und obwohl er den klassischen Weg eines arabischen Mannes geht – Übernahme des Geschäfts vom Vater, frühe Heirat, Kinder – hängt er noch seiner großen französischen Liebe hinterher. Der Unabhängigkeitskampf der Palästinenser bildet den Hintergrund. Das ist es auch, was das Buch interessant macht. Auf Liebesgeschichte und vor allem die oft hölzernen Dialoge hätte ich mehr oder weniger verzichten können – dann wäre das Buch auch deutlich schlanker geworden.
Anne Weber – Annette. Ein Heldinnenepos
Verdiente Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2020, muss man über die Geschichte der Résistance- und später der FLN in Algerien Annette Beaumanoir, glaube ich, nicht mehr viel sagen. Ich sitze noch an einer ausführlichen Rezension dieses sowohl inhaltlich als auch formal beeindruckenden und überzeugenden Werks. Trotz der Epos-Form absolut gut lesbar, bitte nicht abschrecken lassen. Zum Reinhören empfehle ich die Lesung des Residenztheaters München, die noch bis 31.Dezember auf dessen Online-Kanal unter Resi liest nachzuhören ist. Mein Highlight des Novembers und unbedingt lesenswert.
Natasha Korsakova – Tödliche Sonate
Und zum Schluss noch eine Kriminalgeschichte aus Rom mit einem sympathischen Kommissar und viel Musik. Der Fall um eine ermordete Musikagentin kreist auch um eine berühmte Geige Antonio Stradivaris und ist als Hörbuch nicht nur hervorragend von Johannes Steck, Frank Arnold und Oliver Brod eingesprochen, sondern auch noch mit Musikstücken der Autorin, einer bekannten Violinistin stimmig ergänzt. Wer also gerne hört, greife zum Hörbuch.
Ich wünsche euch allen noch eine schöne Adventszeit. Bleibt gesund und genießt vielleicht das Mehr an erzwungener Stille, die uns die derzeitige Situation abverlangt. Und vielleicht auch das Mehr an Lesezeit.