Raufarhöfn ganz im Nordosten von Island, 17 km bis zum Polarkreis, Durchschnittstemperatur im Juli knapp 11° C bei rund 4 Sonnenstunden, 173 Einwohner, seit den 1960er Jahren im Niedergang begriffen, als der Hering, die Haupteinnahmequelle, ausblieb und strikte Fangquoten der Überfischung Herr werden sollten. Dieses Raufarhöfn gibt es tatsächlich. Eine Einöde. Inwieweit sich die Bewohner mit den Menschen im dort spielenden Roman Kalmann von Joachim B Schmidt identifizieren können, wäre interessant zu wissen. Irgendwie sympathisch, aber auch sehr eigen und teilweise extrem schrullig werden sie beschrieben.
Hauptprotagonist und Ich-Erzähler ist der 34jährige Kalmann Óðinsson. Er ist von allen wohl der schrulligste. Seit sein Großvater, der Fischer und Kalmanns wichtigste Bezugsperson war, ins Altenheim von Húsavik gezogen ist und seinen Enkel nur noch in wenigen klaren Momenten erkennt, lebt der geistig etwas eingeschränkte junge Mann allein. Seine Mutter kümmert sich zwar regelmäßig um ihn, wohnt aber ca. 3 Autostunden entfernt in Akureyri. Der Vater wird nur als „Samenspender“ genannt und war ein auf der Insel stationierter US-Amerikaner. Mit seinem Alltag kommt Kalmann ganz gut zurecht, er geht fischen und macht den „zweitbesten Gammelhai Islands“, eine für Mitteleuropäer:innen etwas eklig klingende Spezialität. Stundenlang sitzt er vor dem Fernseher und schaut Serien, futtert und trinkt Cola – weswegen er auch ein klein wenig übergewichtig ist.
Der Sheriff von Raufarhöfn
Am liebsten zieht der selbsternannte „Sheriff von Raufarhöfn“ aber in voller Montur – Sheriffstern, Cowboyhut und eine alte Mauser Pistole – durchs Dorf oder er geht jagen. Auf einem dieser Jagdausflüge entdeckt er oben auf der Melrakkaslétta, der „Ebene der Polarfüchse“, eine große Blutlache. Da zur gleichen Zeit der Hotelier Róbert McKenzie, der „König von Raufarhöfn“, verschwunden ist, vermutet man einen Zusammenhang und aktiviert die Polizei, die in Person der sympathischen, bodenständigen Birna ermittelt.
Unfall, Mord oder, wie Kalmann vermutet, ein von Grönland herüber geschwommener Eisbär? Alles wird noch seltsamer, als Magga, eine Witwe aus dem Ort, die Kalmann wöchentlich mit dem Auto nach Húsavik mitnimmt, wo sie den Friseur und er seinen Großvater besucht, plötzlich verstirbt und ein großes Fass voll mit Marihuana angeschwemmt wird. Was haben die litauischen Saisonarbeiter damit zu tun? Und wohin verschwindet Nói, Kalmanns einziger, wenn auch nur Online- Freund, ein Computernerd aus Reykjavik? Als schließlich eine sauber abgetrennte menschliche Hand im Magen eines Hais auftaucht, scheint zumindest der Eisbär vom Tisch zu sein.
Ein Krimi?
Joachim B Schmidt schreibt mit Kalmann einen spannenden, besonderen Krimi, der eigentlich gar nicht in erster Linie ein Krimi ist. Wie der 1981 in der Schweiz geborene Autor, der seit 13 Jahren auf Island lebt und dort auch als Fremdenführer arbeitet, selbst sagt, hatte er einen klassischen Kriminalroman geplant, aber dann kam ihm Kalmann ins Gehege. Dieser Typ ist etwas ganz Besonderes und sein Charakter rückte mehr und mehr ins Zentrum.
Sein völlig naiver Blick, sein alles andere als korrektes Welt- und vor allem Frauenbild, seine gutgelaunte und dann immer wieder plötzlich ins Aggressive rutschende Art, seine lakonische Art zu erzählen – da wir das Geschehen immer nur durch seine Perspektive erfahren, dieser Filter uns nur nach und nach die tatsächlichen Ereignisse preisgibt, bleibt die Geschichte lange spannend. Wir ahnen, dass Kalmann gar nicht so unschuldig ist, wie er erscheint, manche Aussagen von ihm irritieren, aber irgendwie ist er doch so liebenswert. Oder?
Joachim B Schmidt hat mit Kalmann einen ganz besonderen Helden geschaffen, der in Erinnerung bleiben wird. Um ihn herum konstruiert er einen raffiniert gebauten, spannenden Krimiplot und lässt auch aktuelle Themen wie die Finanzkrise 2008, der schwierige Umgang mit Touristen, der Niedergang der Fischerei und die Spekulation mit Fangquoten, sterbende Dörfer und die auch in Island bekannte Angst vor Überfremdung einfließen. Nicht zuletzt malt er eindrucksvolle Bilder einer rauen, faszinierenden Landschaft und Natur. Nur Gammelhai schmackhaft zu machen – das gelingt ihm bis zuletzt nicht.
Weitere Rezensionen bei Constanze (Zeichen & Zeiten) und bei Sandra Falkes Literarischen Abenteuern
Beitragsbild: Raufarhöfn, Island by Einar (CC BY-SA 4.0) via Wikimedia Commons
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Joachim B Schmidt – Kalmann
Diogenes September 2020, Hardcover Leinen352 Seiten, € 22,00
Lese ich gerade als Zeitungsfortsetzung. Super spannend und amüsant, hoffentlich bleibt es so bis zur hoffentlich überraschenden Auflösung. Der Schelm Kalmann erinnert mich stark an Oskar Matzerath.
Will nicht zuviel verraten, aber es bleibt gut bis zum ende. 😉 Viel Spaß weiterhin!
Hallo Petra,
deine Rezension liest sich wieder wunderbar, vor allem, wenn man das Buch kennt. Dann interessieren die Hintergründe nämlich noch mehr als ohne die Lektüre.
Für mich war es auch ein besonderes Leseerlebnis, bei dem ich viel über Islands Natur, aber auch diese ganz besondere Person kennenlernen durfte.
Ich wünsche dir eine schöne Weihnachtszeit und einen guten Jahreswechsel .
Liebe Grüße
Barbara
Danke, liebe Barbara. Ich wünsche dir auch frohe Festtage und komm gut ins Neue Jahr! Liebe Grüße, Petra