Paris im Henry County, Tennessee in den 1870er Jahren. Der Amerikanische Bürgerkrieg ist noch nicht lange beendet, die elf Südstaaten, die sich nach der Wahl des Sklavereigegners Abraham Lincoln zum Präsidenten von den Vereinigten Staaten abgespalten haben, sind besiegt. Die Sklaven wurden durch Verfassungszusätze zu freien Bürgern. Zumindest offiziell. Besonders in den ehemaligen Südstaaten schlägt ihnen aber immer noch roher Rassismus entgegen. Gleichzeitig ziehen immer noch marodierende Milizen, die von den Truppen der Konföderierten übriggeblieben sind, durchs Land. Vagabunden, die nach Kriegsende nicht wissen, wohin mit sich. Und die die Veränderungen im Staat nicht akzeptieren wollen. Hier siedelt Sebastian Barry seinen neuen Roman Tausend Monde an.
Manch eine Leser:in erinnert sich vielleicht an den 2018 erschienenen Roman Tage ohne Ende, der auch in Deutschland sehr positiv aufgenommen wurde. Tausend Monde ist die Fortsetzung, die sich auch problemlos eigenständig lesen lässt. Erzählte in Tage ohne Ende der irischstämmige Soldat Thomas McNulty von seinen Erlebnissen während des Krieges, den Grausamkeiten, die dort begangen wurden, und von seiner Liebe zu seinem Kameraden John Cole, übernimmt nun Winona, die indianische Waise, derer sich die beiden angenommen haben.
Nach dem Bürgerkrieg
Fast zehn Jahre sind ins Land gegangen, Thomas, John und Winona leben in einer Art Patchwork-Familie auf der Farm von Lige Magan. Auch freigelassene Sklaven, das Geschwisterpaar Tennyson und Rosalee Bougereau, sind Teil der Gemeinschaft. Winona ist mittlerweile siebzehn und sehr aufgeweckt. Sie arbeitet bei Anwalt Briscoe, einem aufgeklärten, äußerst gütigen Mann. Auch einen Verehrer hat sie, den Weißen Jungen Jas Joski.
Trotz der immer wieder aufscheinenden gesellschaftlichen Unruhen und der deutlichen, manchmal brutalen Verachtung, die viele Weiße den Schwarzen und vor allem auch der indigenen Bevölkerung entgegenbringen, wirkt die Szenerie sehr friedlich und harmonisch. Thomas und John sind wie Eltern zu Winona. Diese leidet zwar unter dem Trauma, die brutale Vernichtung ihres Lakota-Stammes und die Ermordung ihrer Eltern und Schwester als kleines Mädchen mitangesehen zu haben, und hadert auch mit der Vorstellung, dass ihre Zieheltern als Soldaten daran vielleicht direkt beteiligt waren. Dennoch erscheint das Zuhause auf Magans Farm und die Liebe und Harmonie, die zwischen Thomas und John herrschen, wie eine kleine utopische Insel des Glücks.
Ein Verbrechen
Gleichzeitig merkt man aber, dass die Zeiten wieder rauer werden, dass die Entwicklung der Gesellschaft wieder rückwärts verläuft. Die Anfeindungen gegen die ehemaligen Sklaven nehmen zu. „Nachtreiter“ mit Kapuzen machen die Gegend unsicher. Und Angehörige der indigenen Stämme, sind für Viele nicht mehr als Tiere. Sie haben keinerlei Rechte. So interessiert es außerhalb der kleinen Gemeinschaft auf Magans Farm und dem Anwalt Briscoe niemanden, als Winona eines Abends brutal vergewaltigt wird. Da sie vorher einiges an Whiskey getrunken hat, kann sie sich an die Tat kaum erinnern. Sie weiß nur, dass sie vorher mit Jas Jonski zusammen war. Die Lage spitzt sich zu, als der schwarze Junge Tennyson brutal zusammengeschlagen und das Haus von Anwalt Briscoe in Brand gesetzt wird.
Erst am Ende erfahren die Leser:innen, wie sich alles verhalten hat und wer kurz nach der Vergewaltigung Jas Jonski ermordet hat. Das baut einen enormen Spannungsbogen auf, besonders da Winona des Mordes verdächtigt und zum Tod durch Erhängen verurteilt wird.
Western, Krimi, aber auch Adoleszenz- und Liebesgeschichte – das alles hat Sebastian Barry in Tausend Monde vereint. Und damit einen wunderbaren Roman geschaffen.
Die historische Ebene ist nur das eine. Wie das Geschichtspendel wieder zurückschwingen kann, erinnert nicht wenig auch an heutige Tage. Der Zunahme von Hass, Rassismus und Gewalt setzt Barry mit seinen Protagonisten Menschlichkeit, Toleranz, Liebe und Loyalität entgegen. Dabei ist keine seiner Figuren eindimensional. Alle, Gut wie Böse, besitzen ihre Ambivalenzen. Das Verlangen nach Rache ist ihnen allen bekannt. Und Thomas und Johns Rolle bei der Tötung von Winonas Familie bleibt auch in der Schwebe. Was mit Winona „damals“ passierte bleibt ungewiss und auch ihre Vergewaltigung ungeklärt. Das ist für sie und ihre Identitätsfindung sicher schwierig.
Ich bin Winona
„Ich bin Winona.
In meinen ersten Jahren war ich Ojinjintka, das bedeutet „Rose“. Thomas McNulty hatte sich ordentlich bemüht, diesen Namen auszusprechen, aber es wollte ihm nicht gelingen, und so gab er mir den Namen meiner toten Cousine, weil der ihm leichter von der Zunge ging. Winona bedeutet „Erstgeborene“. Die „Erstgeborene“ war ich nicht.“
In Tage ohne Ende sprach Sebastian Barry mit der Stimme von Thomas McNulty und erzählte von dessen homosexuellen Liebe zu John Cole, in Tausend Monde ist es das Lakota-Mädchen, das in der Chickasaw Peg ihre erste Liebe findet und als Ich-Erzählerin fungiert. Es ist ein Zeichen großer Erzählkunst, dass Sebastian Barry so unterschiedliche und dazu noch zeitlich so entfernte Stimmen bravourös und authentisch gelingen. Dazu der nicht abreißende Spannungsbogen, schöne Naturschilderungen und eine gelungene, manchmal lyrische, dann wieder jugendlich-naive Sprache machen das Buch zu einem Lesehighlight dieses Herbstes. Die schöne Übersetzung von Hans-Christian Oeser trägt dazu dabei.
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Beitragsbild: John C. H. Grabill, Public domain, via Wikimedia Commons
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Sebastian Barry – Tausend Monde
Übersetzt durch Hans-Christian Oeser
September 2020, Leineneinband, 256 Seiten, € 24.00
2 Gedanken zu „Sebastian Barry – Tausend Monde“