Streulicht entsteht, wenn das Licht an sehr kleinen, in der Luft schwebenden Teilchen, fest oder flüssig, gebrochen wird, diffus wird. Die Luft nahe des Industrieparks, wo die Ich-Erzählerin von Deniz Ohde in ihrem Debütroman Streulicht zuhause ist, ist oft voll mit diesen kleinen Partikeln, Rauch, angereichert mit Säure. Bei Kälte sinkt der ausgestoßene Wasserdampf als Industrieschnee zu Boden. Im Arbeitervorort, der zwar nie direkt benannt wird, leicht aber als Sindlingen bei Frankfurt am Main identifiziert werden kann, wird aber nicht nur das Licht gebrochen. Auch so manche Kindheit und Bildungsgeschichte kommt hier nicht ohne Brüche aus.
Die Ich-Erzählerin, von der man nur weiß, dass sie zwei Namen hat, dass sie einen davon in der Öffentlichkeit meidet, da er sie „entlarvt“, wächst als Kind eines deutschen Arbeiters der nahegelegenen Farbwerke Hoechst und einer aus einem kleinen Dorf an der Schwarzmeerküste stammenden türkischen Mutter auf. Der Vater taucht seit vierzig Jahren Tag für Tag Bleche in Lauge, um sie zu beizen. Die Mutter geht putzen. Zusammen mit dem Großvater wohnen sie in einer der typischen Arbeitersiedlungen der Gegend.
Das Horten von dingen
Dem Großvater sitzt noch der Krieg im Nacken. Der Krieg und die Zeit des Mangels danach. Dinge aufzubewahren, für kommende „schlechtere Zeiten“, das hat er seinem Sohn als eine Lebensmaxime mitgegeben. Und so hortet der Vater auch jetzt im bescheidenen Wohlstand wertlose und unbrauchbare Sachen. Im Schlafzimmer, in der Küche, im Keller. Die schönsten Kindheitserinnerungen der Erzählerin sind vielleicht die gemeinsamen Streifzüge auf sämtliche Flohmärkte der Umgebung.
„Man benahm sich, als wäre man immer noch gefangen in einer Zeit, in der Selbstbeschränkung notwendig gewesen war, (…) Dabei lag seine Jugend in den Sechzigern und Siebzigern, in denen man gut Geld verdienen konnte, dank des Aufschwungs, der die ganzen Entbehrungen der Jahrzehnte davor (und auch die Gründe der Entbehrungen) vergessen machte.“
„Die von klein auf antrainierte Sparsamkeit wurde zu einer Lebensart, an der er festhielt, obwohl es keinen Grund mehr zum Sparen gab. Was ihn antrieb war die Angst, nichts zu haben.“
Das Leben als Unausweichlichkeit
Ansonsten ist der Vater zu Zärtlichkeit und Gefühlsbezeugungen nicht geschaffen, neigt dem Alkohol zu. Dennoch ist Deniz Ohde gerade mit dem Vater die vielleicht anrührendste, zärtlichste Figur des Romans gelungen. Die Hoffnungslosigkeit und Unausweichlichkeit seines Lebens äußern sich manchmal in Gewaltausbrüchen. Mit seiner Gewalt gegen Dinge schützt er auf seine Weise Tochter und Frau. Die Mutter ergreift irgendwann aber doch die Flucht. Sie zieht in eine eigene kleine Wohnung, ganz in der Nähe. Denn sie muss ja doch kochen für die Männer. Und auch der fast blinde Großvater muss doch versorgt werden. Für eine wirkliche Trennung fehlt ihr die Verantwortungslosigkeit. Oder auch nur die Fantasie. Die Tochter wirft ihr vor:
„Nie war es ihr darum gegangen, mich zu beschützen. Nie war es ihr darum gegangen, mir diese Unabhängigkeit vorzuleben, die sie erfasst hatte, als sie mit zehn oder elf Jahren heimlich Schweinefleisch aß.“
Du bist Deutsche
Die Mutter erzieht die Erzählerin zur Unauffälligkeit, zum Stillsein, zum Anpassen. Sie soll nicht als Fremde, als Türkin, als Fremdkörper wahrgenommen werden. Feindlichkeiten werden von ihr stets heruntergespielt – „Du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.“ -, genauso wie von Lehrern und sogar ihren besten Freunden, Sophia und Pikka, die aus so viel besseren, privilegierten Elternhäusern stammen.
„Du nimmst die Dinge eben immer gleich persönlich.“
ist nur einer der stets leicht herablassenden, kränkenden Kommentare der Freunde auf Klagen der Protagonistin. Zur Hochzeit der Beiden ist sie zu Beginn des Romans unterwegs. Mittlerweile als Studentin in Leipzig lebend, löst diese Heimkehr in die Wohnung des Vaters – Mutter und Gro0vater sind mittlerweile gestorben – die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend aus.
Mit viel Bitterkeit und einigem an Wut erzählt sie von ihrer gebrochenen Bildungskarriere. Als Arbeiterkind und Halbtürkin wird ihr stets weniger zugetraut als ihren Mitschüler:innen. Immer muss sie sich mehr bemühen als diese. Selten wird das anerkannt. Auf dem Gymnasium wird von einigen Lehrern ganz offen vom „Aussieben“ gesprochen. Und wer kennt das nicht? Das Bildungsversprechen, die viel zitierte Chancengleichheit, hier werden sie reihenweise gebrochen. Von der Mutter stets zur Unauffälligkeit erzogen, ohne ein stabiles Selbstwertgefühl kollidiert die Protagonistin mit den Anforderungen der Schule. Mündliche Leistung, sich nach vorn, in die Aufmerksamkeit der Lehrer:innen zu drängen, das liegt nun mal nicht jedem Kind. Und das betrifft sicher nicht nur solche mit dem sogenannten Migrations- oder einem bildungsfernen Hintergrund. Ein Lehrer fasst es mal so:
„Du bist nun alt genug, du musst dich trauen, zu sprechen, ein Nichttrauen kann es für dich nicht mehr geben – sonst enthältst du den anderen absichtlich dein Wissen vor.“
Von Ermutigungen steht da nichts. Von Elternseite sind sie für die Erzählerin nicht zu erwarten. Für den Vater ist Bildung eher verdächtig. Das vorhandene Talent und die Intelligenz der Tochter vermag er nicht einmal zu sehen. Sein Rat fällt deshalb auch wenig ermutigend aus.
„Das Wichtigste ist, im Leben möglichst einfach durchzukommen. Sich anzustrengen führte zu nichts, davon war er überzeugt. Das ist mir zu fein, war ein Satz, den er bereits über Stoffservietten sagte.“
Bildungschance
Später kommen dazu noch Krankheit und Tod der Mutter, eingeschränkte finanzielle und räumliche Mittel – es verwundert nicht, dass die Erzählerin scheitert, das Abitur nicht schafft. Von der Wut der Autorin, die eine ähnliche Bildungsgeschichte vorweist, zeugen so manche Urteile über Lehrer:innen.
„Sie wussten, dass sie nichts Außergewöhnliches an sich hatten. Sie wussten, dass sie langweilig waren. Sie wussten, dass sie nur Lehrer geworden waren, weil ihnen nichts Besseres eingefallen war, und sie waren wütend auf die Jugend, die sie täglich vor sich hatten und sie täglich von ihnen abrückte. Sie waren wütend auf ihr unendliches Potential, das sie an sich selbst nie oder erst zu spät erkannt hatten, und am wütendsten wurden sie, wenn eins der Kinder schon jetzt damit begann, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln (…).“
Interessant ist natürlich, dass der Abgesang auf Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit von Deniz Ohde in Streulicht paradoxerweise gleich wieder genau diese Chancen vorführt. Denn sowohl die Erzählerin als auch die Autorin haben auf dem zweiten Bildungsweg, mit Abendschule, mit Ermutigung durch andere Lehrer:innen sowohl Abitur als auch Studium geschafft. Und zwar ganz ausgezeichnet. Eine gewisse „ängstliche Teilnahmslosigkeit, die bewirken soll, dass man mich übersieht“ bescheinigt Deniz Ohde ihrer Protagonistin in Streulicht aber gleich zu Beginn des Romans immer noch.
Ein Motiv, das im Roman immer wieder einmal auftaucht, ist ein im Jahr 1996 während der Christmette in Sindlingen erfolgtes Selbstmordattentat, bei dem eine psychisch kranke Frau zwei weiter Frauen mit Handgranaten in den Tod riss. In dieser Kirche findet Sophias und Pikkas Hochzeit statt. Für die Protagonistin ist dieser Selbstmord auch eine Form des Fortgehens.
Bildungsroman
Deniz Ohde hat mit Streulicht einen klassischen Bildungsroman geschrieben. Von einer, die fortging um zu gesunden. Ihre familiäre und schulische Erziehung war geprägt von Ausgrenzung, Sprachlosigkeit, Abwertung und permanenter Alarmbereitschaft, nicht negativ aufzufallen. Kein offener Rassismus, aber allerorten die allzu große Bereitschaft, wegzusehen, wo er versteckt wirkte. Und die Protagonistin stand immer dazwischen. Zwischen Arbeiterstolz und Bildungswunsch, Individualität und Anpassung. Ihr ist der Ausbruch gelungen.
Deniz Ohde beobachtet fein und genau – autobiografische Parallelen waren da sicher hilfreich – und schafft ein bedrückendes, desillusioniertes, aber nicht hoffnungsloses, dichtes Stück Prosa. Ihre Sprache ist sowohl einfühlsam als auch spröde, ruhig und sehr atmosphärisch. Mit diesem erstaunlich reifen Debütroman hat die 1988 in Frankfurt geborene Autorin sowohl den Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung als auch den aspekte Literaturpreis 2020 gewonnen und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis.
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Beitragsbild Panorama Duisburg by Bertram Nudelbach (CC BY-SA 2.0) via Flickr
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Deniz Ohde – Streulicht
Suhrkamp August 2020, Gebunden, 284 Seiten, € 22,00
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