Cihan Acar – Hawaii

Hawaii – das klingt nach Südseeparadies, nach Blumenketten, nach gutem Leben. (Wenn auch nur in der Fantasie). Das Hawaii, in das der Protagonist und Ich-Erzähler im Debütroman von Cihan Acar zurückkehrt, hat von dieser Fantasie so gar nichts. Hier, im einstigen Problemviertel Heilbronns, wohnen die sozial schwächsten Einwohner der schwäbischen Stadt. Und auch wenn die Zeiten, als Hawaii angesichts der dort herrschenden Drogenproblematik und der Kriminalität gerne „die Bronx“ von Heilbronn genannt wurde, vorbei zu sein scheint, gilt das Viertel immer noch als unterprivilegiert.

Die Bewohner der schlichten, vierstöckigen Nachkriegsbauten sind multikulturell. Bis zu 90% haben einen sogenannten Migrationshintergrund, über ein Dutzend Nationalitäten sind hier zuhause, die Mieten sind niedrig.

Zerplatzter Traum

Eher zufällig ist die Familie von Kemal Arslan hier gelandet. Als ihre Wohnung in einem Heilbronner Vorort wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde, fand sich auf die Schnelle nichts anderes. Dass das Viertel mitten im Industriegebiet, über das immer wieder eine Schwade Suppengeruch vom nahegelegenen Knorr-Werk wabert, aber keine Endstation sein muss, bewies Kemal. An ihm wurde der Traum vieler kleiner Jungs wahr, er wurde zum gutverdienenden Profifußballer beim türkischen Erstligisten Gaziantepspor. Eine gutaussehende deutsche Freundin aus gehobenem Haus, ein Jaguar, teure Klamotten – plötzlich konnte sich Kemal alles leisten. Die Leute im Viertel und die türkischen Fußballfans lagen ihm zu Füßen.

Durch einen dummen Unfall, selbst verschuldet bei einem Autorennen, zerplatzte dieser Traum aber allzu bald. Ein komplizierter Bruch des Fußes zerstörte Kemals Fußballerkarriere. Und nun kehrt der 21jährige zurück in sein altes Viertel, nach Hawaii.

Hier hat sich einiges geändert. Seine Freundin Sina hat einen neuen Freund und Kemal muss seinen neuen Weg erst finden. An vier heißen Sommertagen begleiten wir Kemal, besuchen mit ihm seinen kaputten Jaguar im Parkhaus, gehen mit ihm zum Vorstellungsgespräch beim zwielichtigen Unternehmer Tayfun, begleiten ihn in Kneipen, Clubs und zur Zockrunde mit seinen alten Freunden Hakan und Emre. So richtig zugehörig fühlt sich Kemal nicht mehr. Seiner genauen Beobachtungsgabe gerade aus dieser Position dazwischen, zwischen Arm und Reich, Migranten und Deutschen, verdanken wir authentische Milieustudien.

Unruhen
by Fajrul Falah auf Pixabay
Heiße Tage

Zugleich scheint sich etwas zusammenzubrauen in und um Heilbronn. Eine rechtsextreme Bürgerwehr – HWA – Heilbronn wach auf – macht die Gegend unsicher. Die mafiös agierende Kanka-Bande hält dagegen. Die Aggressivität wächst in den heißen Hundstagen, in denen Cihan Acar sein Hawaii spielen lässt. Der NSU-Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter, die Brandanschläge gegen Asylbewerberheime und der Messerangriff eines Heilbronner Rentners auf Migranten bilden einen Hintergrund für den Alltagsrassismus, der in der Stadt herrscht. Und auch die HWA hat ein reales Vorbild in der 2016 gebildeten Bürgerwehr „Helfende Hand“. Cihan Acar lässt die Konflikte und die Gewalt in Hawaii eskalieren. Das ist glücklicherweise Fiktion.

Das Buch thematisiert den Alltagsrassismus der Provinz, verknüpft ihn mit der Identitätssuche eines jungen Mannes, dem der Lebenstraum geplatzt ist, und zeichnet ein authentisches und stimmungsvolles Bild des Nebeneinanders von schwäbischer Provinz und türkischer Community. Das liest sich trotz aller Problematiken sehr leicht, sogar amüsant. Hin und wieder streut Cihan Acar Soziolekte ein, ohne dass das gewollt klingt. Das Porträt von Kemal als einem, der überall dazwischen steht, Verbundenheit zu allen Seiten empfindet, zugleich aber auch seinen Platz verloren hat, ist dabei besonders gut gelungen. Kemal lässt sich treiben, wohin, bleibt offen. Aber erst einmal weg.

„Das mit der Reise ohne Ziel stimmt gar nicht. Ich wusste ganz genau, wo ich hinwollte. An einen Ort, an dem ich der sein kann, der ich bin. Nicht Kemal, der Fußballer, nicht Kemal, der Arbeitslose, der Herumtreiber, der Versager, der Verräter, der Verkäufer, der Typ zwischendrin. Sondern einfach nur ich.“

 

Weitere Besprechungen u.a. bei letteratura, schiefgelesen, Buch-Haltung, leckerekekse und Ruth liest

 

Beitragsbild: Heilbronn Bildungscampus by Detlef Schobert (CC BY-ND 2.0) via Flickr

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Cihan Acar - Hawaii.

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Cihan Acar – Hawaii
Hanser Berlin Februar 2020, Fester Einband, 256 Seiten, 22,00 €

2 Gedanken zu „Cihan Acar – Hawaii

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