Kein Ort ist fern genug, um dem Grauen der Judenverfolgung während der Nazidiktatur in Europa zu entkommen – das schildert Santiago Amigorena sehr eindrucksvoll in seinem autobiografisch geprägten, gleichnamigen Roman.
Es ist der Großvater des Autors, der Vorbild war für Vicente Rosenberg, Möbelhändler in Buenos Aires. Als Wincenty in Polen geboren, hat er schon lange keinen Bezug mehr zum Judentum. 1928 verließ er sein Heimatland, um in Argentinien ein neues, freieres Leben zu beginnen. Und auch ein klein wenig, um seiner besitzergreifenden Mutter zu entkommen. Dem Einvernehmen nach ist die jüdische „Mamme“ besonders fürsorglich, wenn nicht gar einengend. So war es für Wincenty auch ein Befreiungsschlag, als er hier in Buenos Aires als Vicente mit der temperamentvollen Rosita eine eigene Familie gründen konnte.
Doch nun, der Roman beginnt 1940, häufen sich die schlimmen Meldungen aus Europa. Deutschland steht im Krieg mit Polen, in Warschau wird das jüdische Ghetto errichtet und man spricht von Transporten in Arbeitslager, Liquidierungen, Hunger und entsetzlichen Lebensbedingungen. Im Gegensatz zu seinen Freunden Ariel und Sammy hat Vicente seine Mutter und seinen Bruder mit Familie nicht zur Ausreise aus Deutschland überreden können. Nun wirft er sich vor, das nicht energisch genug betrieben zu haben. War er nicht sogar ganz froh über die Distanz?
Jude sein
Dabei hat er sich und seine Familie nie als jüdisch wahrgenommen. Er fühlte sich als junger Mann als Pole, war in der polnischen Armee aktiv, und nun möchte er Argentinier sein.
„Mit am schlimmsten am Antisemitismus ist die Tatsache, dass die Juden sich zwangläufig als Juden zu fühlen haben, dass man sie auf eine Identität jenseits ihres Willens festlegt und kurzerhand für sie beschließt, wer sie wirklich sind.“
Doch je mehr Nachrichten, Zeitungsmeldungen und die immer seltener werdenden Briefe der Mutter vom Ernst der Lage berichten, umso mehr muss Vicente sich positionieren. Wegschauen geht nicht mehr.
„Wie viele Juden verstand Vicente allmählich, dass ein Antisemit, der sich als solcher definiert, nicht dulden kann, dass ein Semit sich nicht selbst so definiert.“
1942 begannen in Warschau die Massendeportationen. In essayistischen Passagen lässt Santiago Amigorena die Geschehnisse in Kein Ort ist fern genug einfließen. Vicente kann nicht wissen, dass seine Mutter bereits nach Treblinka verbracht und dort ermordet wurde. Aber er ahnt Schreckliches. Und dieses Schreckliche, zusammen mit den Selbstvorwürfen und den Schuldgefühlen, der Scham, seine Mutter nicht gerettet zu haben, selbst ein so gutes Leben führen zu können, überwältigt den Familienvater. Kurze Hoffnung durch den Ausbruch des Warschauer Aufstands wechselt durch dessen Niederschlagung in absolutes Grauen. Vicente verstummt. Er nimmt nicht mehr am Familienleben teil, hat kaum noch Interesse an seinem Möbelladen. Glücksspiel ist das Einzige, was ihn noch auffängt.
Schicksal des Großvaters
Santiago Amigorena, 1962 in Argentinien geboren, hat das Schicksal seines Großvaters als Vorbild für Vicente verwendet, er schrieb Kein Ort ist fern genug, „um das Schweigen zu bekämpfen, an dem ich seit meiner Geburt ersticke“. Es war ein weitverbreitetes Phänomen, dass die Überlebenden der Shoah, auch jene, die sie gar nicht unmittelbar miterleben mussten, ihr Leben lang schwiegen, das Grauen niemals loswurden. Amigorena durchdringt das tief, erzählt von den Verwüstungen, die auch in der zweiten und dritten Generation vorhanden waren und sind, der Hilflosigkeit der Angehörigen, dem Verstummen und innerlich Absterben, die ganze Familien auch nach dem Krieg und vielleicht bis heute zerstört haben. Auch Vicente denkt in seinem Selbsthass an Suizid.
Santiago Amigorena flüchtete 1972 mit seiner Familie vor der Argentinischen Militärdiktatur nach Frankreich, wo er heute als Filmemacher und Autor lebt. Diese doppelte Verfolgungserfahrung hat ihn tief geprägt.
Kein Ort ist fern genug erzählt von der Shoah aus ungewohnter Perspektive, leise, eindringlich und tief bewegend.
Eine weitere Stimme zum Roman findet ihr bei Constanze Zeichen und Zeiten
Beitragsbild: Treblinka Nazi Extermination Camp by Benjamin (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr
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Santiago Amigorena – Kein Ort ist fern genug
Übersetzt von Nicola Denis
Aufbau Verlag Juli 2020, Gebunden mit Schutzumschlag, 184 Seiten, 20,00 €