Im Dezember war lesetechnisch einiges los. Meine Lektüre im Dezember 2020 umfasste neun Titel plus fünf Bücher, die ich für den Debütpreis lesen durfte. Die Verlagsvorschauen wurden emsig durchgeblättert und eine Übersicht über die interessantesten Titel veröffentlicht. Dazu kam ein Rückblick auf das vergangene Lesejahr.
Dadurch ist ein kleiner Rezensionsstau entstanden und mein Überblick über die Lektüre im Dezember 2020 erscheint erst jetzt. Einige Titel habe ich zwar schon vor Längerem gelesen und rezensiert, den entsprechenden Beitrag aber noch nicht veröffentlicht.
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Claudia Casanova – Albas Sommer
Ein besonders schön gestalteter historischer Roman aus Spanien.
Die junge Alba hat ein ausgeprägtes Herz für die Botanik. Doch im ländlichen Spanien des Jahres 1875 ist der Weg einer jungen Frau vorgezeichnet. Bereits die Mutter hat ihre akademischen Ambitionen für Ehe und Familie aufgegeben. Doch Alba ist entschlossen, ihr Leben der Wissenschaft zu widmen. Zusammen mit dem deutschen Botaniker Heinrich Willkomm streift sie durch die Natur und entdeckt die bislang unbekannte botanische Art Saxifraga alba. Aber sie entdeckt auch die Liebe.
Der schön erzählte Roman ist nicht ganz frei von Kitsch (mein Radar ist da aber auch sehr empfindlich), aber der leidenschaftliche Anspruch, all den unbekannten Wissenschaftlerinnen ein Denkmal zu setzen, ist sehr sympathisch und das Buch ein Lesevergnügen. Und ein schön gestaltetes kleines Buch ist es auch, ideal auch als Geschenk.
Daniel Mellem – Die Erfindung des Countdown
Wer kennt Hermann Oberth? Während der andere Raketenpionier der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wernher von Braun, den meisten bekannt ist, ist er eher in Vergessenheit geraten.
Das Raketenmodell des berühmten Fritz Lang-Klassiker „Die Frau im Mond“ stammt von Hermann Oberth, und Daniel Mellem schreibt ihm in seinem biografischen Debütroman auch die Erfindung des Countdowns zu.
Ein charismatischer Mensch war er nun nicht, seine wissenschaftliche Leidenschaft war ihm Obsession, fand aber wenig Erfüllung. Zwar arbeitete er in Nazideutschland am Rüstungszentrum Peenemünde an der Raketenentwicklung mit und wurde nach Kriegsende auf Betreiben von Wernher von Braun auch zur US-amerikanischen Raketenentwicklung hinzugezogen, er blieb aber stets in zweiter Reihe. Später interessierte er sich verstärkt für die Themen Außerirdisches Leben und Ufos.
Dass er noch 1962 in einer Rede resümierte: „Ich hatte gehofft, eine Raketenwaffe zu finden, die den Schandvertrag von Versailles hätte zerschlagen können. Das ist mir nicht gelungen.“ zeigt, dass er seine bedenklichen politischen Ideale auch nach dem Krieg nicht abgelegt hatte. Diese Seite Oberths hätte in der sehr interessanten und auch durchaus ambivalent gestalteten fiktiven Annäherung vielleicht etwas mehr herausgearbeitet werden können.
Daniel Mellem ist ein gelungener Debütroman über ein Stück Wissenschaftsgeschichte gelungen.
Justin Steinfeld – Ein Mann liest Zeitung
„Ein Mann liest Zeitung“, vom Theaterkritiker und Journalisten Justin Steinfeld im Exil, zunächst in Prag, dann in England und zwischenzeitlich in Australien verfasst. Mit großer analytischer Klarheit undgrimmigem Witz erzählt er von seinem Alter Ego, Leonhard Glanz, der seine Tage im Exil gezwungenermaßen im Kaffeehaus mit der Zeitung verbringt und darüber nachdenkt, wie alles soweit hat kommen können. Eine Romanhandlung gibt es nicht, aber sehr viel Erhellendes. 1984, schon nach Steinfelds Tod zum ersten Mal erschienen, bringt es nun der @schoefflingverlag neu heraus. Aufmerksamkeit wäre ihm zu wünschen.
Für die fünf Romane, die ich für den Bloggerpreis Das Debüt gelesen habe, schaut bitte in meinen entsprechenden Beitrag oder direkt in den Rezensionsbeiträgen.
Zwei der Romane – Streulicht und Hawaii haben mir ausgezeichnet gefallen. Wir verlassenen Kinder von Lucia Leidenfrost hat mich überraschend stark gefesselt, obwohl mir dystopische, parabelhafte Texte normalerweise nicht so gut gefallen. In David Mischs Text bin ich nicht wirklich reingekommmen und Elijas Lied war überhaupt nicht meine Buch. Das Ergebnis des Bloggerpreises könnt ihr auf der Website oder in meinem Beitrag nachlesen.
David Szalnay – Turbulenzen
Ein kleines, feines Buch führt uns rund um den Erdball. Wie in einem Reigen geben sich die Protagonist:innen – allesamt Flugreisende – den Erzählstab weiter und wir gewinnen mit jeder/m von ihnen einen kurzen Einblick in ein Leben. Leicht zu lesen, heiter fast, trotz seiner Nachdenklichkeit. Es ist eine Kunst, dass diese 12 Geschichten nicht nur verleiten, über die Grundfragen unseres Menschseins nachzudenken, sondern gleichzeitig Heiterkeit und ein gewisses Fernweh auslösen, und das nicht nur durch die Wahl von Flughafenabkürzungen als Kapitelüberschriften. Turbulenzen von David Szalnay ist ein schmales, eher unspektakuläres Buch, das sich aber zu einem meiner Jahreshighlights entwickelt hat.
Richard Ford – Irische Passagiere
Richard Ford ist eigentlich einer meiner Lieblingsschriftsteller. Mit seinem neuen Erzählungsband hat er mich aber eher enttäuscht. Alle Geschichten handeln vom gleichen Typ Mann (einmal Frau) in der Mitte des Lebens oder darüber hinaus, gut situiert und doch irgendwie unzufrieden mit dem Leben. Alle haben gescheiterte oder durch den Tod des Partners beendete Beziehungen hinter sich. Alle stehen vor dem Schritt zu einem Neuanfang. Bei den wenigsten gelingt er. Diese Thematik wurde mir diesmal zu wenig variiert. Richard Fords Ton ist immer noch bezwingend, seine melancholische Menschlichkeit einnehmend. In diesen Erzählungen hat mich aber mehr als einmal der Blick auf Frauen irritiert. Und es war für mich nicht klar erkennbar, ob es der Blick eines Protagonisten oder der des Autors war.
Kanada im 17. Jahrhundert. Für die Siedler sind die Ureinwohner einfach nur „die Wilden“, für die dorthin abberufenen Jesuitenpater ist jede getaufte Seele ein Schritt näher zum Paradies. Alle meinen, richtig zu handeln. Wie unvereinbar und schlichtweg für die andere Seite unverständlich die dort aufeinanderprallenden Kulturen waren, erzählt Brian Moore in seinem bereits 1985 erschienenen „Schwarzrock“. Die frommen Männer, die asketisch und ohne jede fleischliche Lust auf ein Jenseits hinleben, sind den Algonkin noch unverständlicher als die Handel treibenden Weißen, die keinerlei spirituelle Verbindung zur Natur zu besitzen scheinen und diese gnadenlos ausbeuten. Die völlig aufs Diesseits gerichteten, der belebten und unbelebten Natur tief verbundenen Stämme, die völlig mitleidlos und teils noch kanibalistisch mit ihren Feinden umgehen, erscheinen wiederum den Einwanderern barbarisch.
Brian Moores Roman ist schonungslos, manchmal ungeheuer brutal, ergreift aber nie für eine der Seiten Partei. Ein klassischer, spannender Abenteuerschmöker mit Substanz.
Santiago Amigorena – Kein Ort ist fern genug
Der Argentinier Santiago Amigorena stammt aus einer jüdischen Familie, in der, wie so oft, nach der Shoah das Schweigen herrschte. Und zwar im engsten Sinn.
Der Großvater, der zum Vorbild für den Vicente des Romans diente, war zwar bereits in den Zwanziger Jahren nach Argentinien ausgewandert. Das Grauen und die Selbstvorwürfe, seine Eltern und seinen Bruder mit Familie in Warschau „alleingelassen“ zu haben, nicht genügend auf die Ausreise gedrängt zu haben, als diese noch möglich war, lässt ihn regelrecht verstummen. Und dieses Schweigen zerstört und belastet auch seine Familie.
Eindringlich und sehr empfehlenswert.
Jane Gardam – Robinsons Tochter
In einem liebevoll-spöttischen Ton erzählt die Autorin die Lebensgeschichte von Polly Flint. Sie umfasst fast ein ganzes Jahrhundert, denn Polly wird 1898 geboren und wir begleiten sie bis weit in ihre Achtziger. Viel englisches Flair weht in der Geschichte, die beginnt, als die sechsjährige Polly nach einigen unerfreulichen Stationen bei wenig liebevollen Pflegeeltern von ihrem Vater zu den Tanten in die nordostenglischen Marschen von Yorkshire gebracht wird. Die Mutter ist früh gestorben, der Vater ist Kapitän zur See und kann sich nicht um seine kleine Tochter kümmern. Das gelbe Haus Oversands, direkt an der Küste gelegen, oft windumpeitscht und im Dauerregen, wird zu Pollys neuem Zuhause und wird es für sie bis ins hohe Alter bleiben. Hier entdeckt sie ihre Liebe zu Büchern, und ganz besonders für eines: Robinson Crusoe. Jane Gardam ist eine genaue Beobachterin und wunderbare Autorin. Liebevoll-lakonisch lässt sie ihre Heldin erzählen. Man begleitet sie gerne und hätte sich vielleicht auch gerne etwas mehr von der erwachsenen und alten Polly Flint erfahren. Vergessen wird man sie so schnell nicht.
Ronya Othmann – Die Sommer
Ronya Othmann hat ein bemerkenswertes Debüt geschrieben. Die Ich-Erzählerin Leyla verbringt als Kind jeden Sommer bei ihren Großeltern in Nordsyrien. Es sind Sommer, die im Gedächtnis bleiben, weil sie so anders sind als ihr Leben zuhause in Deutschland. Sommer, nach denen sie sich das ganze Jahr sehnt. Da ist ihre geliebte Großmutter, ihre vielen Cousins und Cousinen, die Weite der Landschaft, die warmen Nächte in den Stockbetten auf dem Dach. Als sich die Lage in Syrien immer weiter zuspitzt, Leylas jesidische Familie immer mehr bedroht ist, treibt sie nicht nur die Angst um, sondern auch der Zorn auf die Menschen um sie herum hier in Deutschland, denen die Lage in Syrien eher gleichgültig ist. Zugleich ist Leyla aber auch eine junge Frau auf der Suche nach ihrem Platz im Leben, hier in Deutschland, an der Universität, in der Liebe. Besonders schön gelingen Ronya Othmann die Passagen, in denen sie von Syrien erzählt. Dagegen verblassen ihre Adoleszenzerfahrungen in Bayern und Leipzig ein wenig. Auf jeden Fall aber ein lesenswerter Erstling, der sich eines wichtigen Themas dringlich und berührend annimmt.