David Szalay – Turbulenzen

Bereits der letzte, sehr erfolgreiche Roman von David Szalay, Was ein Mann ist, war ein Reigen von Geschichten ganz unterschiedlicher Figuren an verschiedenen europäischen Orten, und auch Turbulenzen, das neue Werk, arbeitet mit demselben Muster. Hier sind es aber nicht nur Männer, in deren Leben Einblick gewährt wird. Und die Reise geht per Flugzeug einmal um die ganze Welt.

Los geht es in London. Hier begleiten wir eine ältere Frau, die ihrem an Prostatakrebs erkrankten Sohn beigestanden hat und nun auf dem Heimflug nach Madrid ist. Zu den Sorgen, die sie sich um ihn und seinen Gesundheitszustand macht, kommen heftige Turbulenzen, in die das Flugzeug gerät. Hier sind sie ganz greifbar, ganz real. Aber in allen Geschichten, in allen Leben, in die wir schauen, sind solche Turbulenzen, solche Störungen des Alltags, die Veränderungen ankündigen, präsent.

Wie ein Staffelstab wird die Erzählung von Person zu Person, von Kapitel zu Kapitel weitergereicht. Wer in der vorherigen Geschichte Nebenfigur oder nur eine Erwähnung war, rückt nun ins Zentrum. Das klingt ein wenig konstruiert, liest sich aber nicht so. Die Übergänge sind elegant und raffiniert gestaltet.

Wie ein domino

So ist es in der zweiten Geschichte der ehemalige Sitznachbar der Frau, mit dem wir von Madrid aus weiter nach Dakar fliegen und mit ihm eine furchtbare Nachricht entgegennehmen. Dieser Vorfall gefährdet fast den Abflug eines Lufthansa-Piloten, der zum Arbeitseinsatz nach Sao Paulo muss und durch das Vorkommnis an eine traurige Episode aus seiner Kindheit erinnert wird. Und so geht es weiter nach Toronto, über Seattle, Hongkong, Ho-Chi-Minh-Stadt, Delhi, Kochi, Doha und Budapest wieder nach London. Und wieder zum krebskranken Sohn der ersten Geschichte.

Wir lernen eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher Leben kennen. Dabei ist Kennenlernen ein zu hochtrabendes Wort. David Szalay tupft in Turbulenzen nur an. Das Buch ist gerade mal 134 Seiten lang. Zur schnörkellosen, komprimierten Erzählweise kommt das Nichtgesagte, das nur in Andeutungen Erwähnte. Und doch entstehen im Kopf der Leserin vollständige Bilder, ganze Leben. Leben, die fragil sind, die von Verlust, brüchigen Beziehungen, Krankheit und Tod bedroht sind. Grundsätzliche Fragen werden angestoßen, wie die nach dem Glück, dem richtigen Leben, nach falschen Entscheidungen und gemachten Fehlern. Alle Protagonisten wirken irgendwie einsam. Der Grundton ist dementsprechend melancholisch.

Dennoch ist es ein sehr leichtes Buch. Leicht zu lesen, heiter fast, trotz seiner Nachdenklichkeit. Es ist eine Kunst, dass diese 12 Geschichten nicht nur verleiten, über die Grundfragen unseres Menschseins nachzudenken, sondern gleichzeitig Heiterkeit und ein gewisses Fernweh auslösen, und das nicht nur durch die Wahl von Flughafenabkürzungen als Kapitelüberschriften. Turbulenzen von David Szalay ist ein schmales, eher unspektakuläres Buch, das sich aber zu einem meiner Jahreshighlights entwickelt hat.

 

Beitragsbild: Himalaya-Flug by erlebe-fernreisen (CC BY-SA 2.0) via Flickr

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David Szalay - Turbulenzen.

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David Szalay – Turbulenzen
übersetzt aus dem Englischen von Ahrens Henning
Hanser Verlag August 2020, Fester Einband, 136 Seiten, 19,00 €

 

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