Jane Gardam – Robinsons Tochter

Vor einigen Jahren wurde die britische Autorin Jane Gardam, immerhin schon weit über 80 damals, in Deutschland entdeckt. Ihre Old-Filth-Trilogie wurde – völlig zu Recht – hochgelobt und bestens verkauft. Man begann sich zu fragen, warum ihre Werke erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurden, schließlich gab es schon zahlreiche Erzählungsbände, Kinderbücher und auch einige Romane und in ihrem Heimatland zählt sie schon lange zu den ganz Großen. Sicher haben auch die vorzüglichen Übersetzungen von Isabel Bogdan zum Erfolg in Deutschland beigetragen. Und nun begann man, sich auch bei den älteren Werken umzuschauen. Nach den frühen Jugendbüchern Weit weg von Verona und Bell und Harry und einem Erzählungsband erscheint nun ein früher, ganz bezaubernder Roman von Jane Gardam, Robinsons Tochter, von 1985.

In einem liebevoll-spöttischen Ton erzählt die Autorin die Lebensgeschichte von Polly Flint. Sie umfasst fast ein ganzes Jahrhundert, denn Polly wird 1898 geboren und wir begleiten sie bis weit in ihre Achtziger. Viel englisches Flair weht in der Geschichte, die beginnt, als die sechsjährige Polly nach einigen unerfreulichen Stationen bei wenig liebevollen Pflegeeltern von ihrem Vater zu den Tanten in die nordostenglischen Marschen von Yorkshire gebracht wird. Die Mutter ist früh gestorben, der Vater ist Kapitän zur See und kann sich nicht um seine kleine Tochter kümmern.

Das gelbe Haus

Das gelbe Haus Oversands, direkt an der Küste gelegen, oft windumpeitscht und im Dauerregen, wird zu Pollys neuem Zuhause und wird es für sie bis ins hohe Alter bleiben. Dunkle Möbel, schwere Teppiche und Vorhänge, das Porträt ihres Großvaters, Erzdiakon Younghusband, über dem Kamin, dazu zwei frömmelnde, alleinstehende Tanten und eine ältliche Witwe, die mit diesen zusammenwohnt – nicht unbedingt die ideale Umgebung für ein kleines Mädchen. Zumal sie kaum Kontakt zu Gleichaltrigen pflegt, denn unterrichtet wird sie zuhause von ihren Tanten Frances und Mary und Mrs. Woods.

Marschland Yorkshire
Paul Glazzard / Weel Carr CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons

So streift sie meist allein durch die weitläufige Marschlandschaft am River Tees, wo sich allenfalls am Horizont in Form der expandierenden Eisenwerke die neue Zeit ankündigt. Ansonsten fühlt man sich oft in eine Geschichte von Charles Dickens – ohne die Härten – oder Jane Austen – ohne die sich nach Ehemännern sehnenden Frauen – versetzt. Polly ist ein eigenständiges Mädchen. Sehr zum Verdruss ihrer gläubigen Tanten und misstrauisch beäugt durch die Dorfgemeinschaft, verweigert Polly den Kirchgang und ihre Konfirmation. Sturköpfig ist sie, und wissbegierig. Am liebsten hält sie sich in der Bibliothek ihres verstorbenen Großvaters auf und liest. Hier macht sie auch die Bekanntschaft mit der Liebe ihres Lebens: mit Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Dieses Buch ist für sie steter Trost, Zuflucht und Ratgeber. Literatur als Rettung und Robinson als Ideal.

„Er ist so, wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetzt. Eingesperrt.“

Aber:

„Er sortiert einen.“

Englische Lebensart

Die Leserin nimmt mit Polly an unzähligen Spaziergängen, Tees und Mahlzeiten teil. Wir lernen die reiche jüdische Industriellenfamilie Zeit kennen, verbringen einen Monat beim aristokratischen Verwandten Thwaite und lernen viel von Good Old England. Aber die Zeit bleibt natürlich auch in Oversands nicht stehen. Tante Frances heiratet den Priester und fährt mit ihm zur Missionierung nach Indien, zwei Weltkriege erschüttern den Kontinent und England, die Industrialisierung schreitet schnell voran. Polly wird erwachsen, erlebt einige unerfreuliche Erlebnisse mit Männern, wird Lehrerin. So viel Zeit sich Jane Gardam für die Kindheit und Jugend von Robinsons Tochter genommen hat, so schnell fliegt sie später durch ihre Erwachsenenjahre.

Jane Gardam ist eine genaue Beobachterin und wunderbare Autorin. Liebevoll-lakonisch lässt sie ihre Heldin erzählen. Man begleitet sie gerne und hätte sich vielleicht auch gerne etwas mehr von der erwachsenen und alten Polly Flint erfahren. Vergessen wird man sie so schnell nicht.

 

Weitere ganz wunderbare Romane von Jane Gardam:

Jane Gardam – Bell und Harry

Jane Gardam – Letzte Freunde

Jane Gardam – Ein untadeliger Mann /Eine treue Frau

 

Der Bücheratlas von Petra Pluwatsch und Martin Oehlen hat das Buch auch bereits besprochen

 

Beitragsbild: River Tees, Teesdale by Billy Wilson (CC BY-NC 2.0) via flickr

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Jane Gardam - Robinsons Tochter.

Jane Gardam – Robinsons Tochter
übersetzt aus dem Englischen von Isabel Bogdan
Hanser Berlin August 2020, Fester Einband, 320 Seiten, 24,00 €

 

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