Lektüre im Januar 2021: Ein neues Jahr hat begonnen und – schwupps – ist schon wieder mehr als ein Monat ins Land gegangen. Wie bei sicher vielen von euch tritt auch hier der merkwürdige Effekt auf, dass die Zeit, je regelmäßiger und ruhiger das Leben verläuft, umso schneller vergeht. Ja, sie rast. Und Aussicht auf Änderung besteht im Moment eher weniger.
Wieder ist eine Buchmesse gecancelt worden. Mit gutem Grund, und wirklich mit ihr gerechnet hatte ich auch nicht (trotz Hotelbuchung etc.). Veranstaltungen jedweder Art sehe ich auch noch nicht in näherer Zukunft. Auch deswegen habe ich mich in den letzten Tagen verstärkt in die digitale Event-Welt begeben.
Nach einigen Zoom-Konferenzen innerhalb unserer Jury-Gruppe zum Debütpreis 2020, aus denen ein Debütroman-Lesekreis zu entstehen scheint, sind auch einige Verlage aktiv. geworden. Ein Abend mit Benedict Wells bei Diogenes, einer mit Hildegard Keller bei Eichborn, bei Hanser mit Alem Grabovac und mit Dana Grigoreca bei Penguin – ein direktes Gespräch mit den Autor:innen und viele liebe Bloggerkolleg:innen zumindest in kleinen Zoom-Bildchen zu sehen – das kam dem Messegefühl schon ein ganz klein wenig nahe und bietet den Autor:innen zumindest die Möglichkeit, ihre Neuerscheinungen mal vor Publikum vorzustellen. Vielen Dank an die Verlage für diese wunderbaren Abende, die den Corona-Alltag ein wenig durchbrechen.
Auch andere Veranstalter bieten tolle Angebote, sogar oft kostenlos. Ich war in der letzten Woche allein bei 6 Veranstaltungen „zu Gast“. Das begann beim Literaturtag der Bücherwelten im Waltherhaus mit u.a. Stephan Lohse, Daniel Mellem und Lucia Leidenfrost – alle drei Autoren habe ich in den letzten Wochen gelesen, das passte. Lesungen mit Ronya Othmann, Nora Krug, Anne Weber und Cécile Wajsbrot, Maya Lasker-Wallfish und Christoph Nußbaumeder schlossen sich an. Und in den nächsten Wochen wird noch viel mehr geboten. Eine der wenigen positiven Auswirkungen der Corona-Pandemie. Auch wenn das den echten Leseabend nicht ersetzen kann – bitte beibehalten! Das ermöglicht Menschen, die nicht in den Ballungsgebieten wohnen oder aus verschiedenen Gründen nicht mobil sind, den Zugang zu Literaturveranstaltungen.
Jetzt aber endlich zu meiner Lektüre im Januar 2021.
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Auch der achte Roman um Gereon Rath von Volker Kutscher kann wieder auf ganzer Linie überzeugen.
Genau recherchiert, atmosphärisch gestaltet, klug aufgebaut: Krimikunst vom Feinsten ohne viel Action oder Grausamkeiten.
Die Kulisse des im Olympiafieber köchelnden Berlin, die Darstellung der sorgsam versteckten brutalen Fratze des nationalsozialistischen Regimes und die aus den vorherigen Romanen bekannten, sorgsam entwickelten Personen sorgen für Lesefreude auf allen Ebenen. Ich bin wirklich immer noch sehr begeistert von dieser Krimiserie. Auf zwei Folgen dürfen wir uns noch freuen.
Ali Smith hat ihr Jahreszeitenquartett im Original bereits komplett veröffentlicht. In Deutschland erscheinen die Bände nun nach und nach, den Jahreszeiten entsprechend.
Winter lässt Ali Smith an Weihnachten spielen. Und A Christmas Carol von Charles Dickens dient auch als einer der vielen literarischen, kunstgeschichtlichen und politischen Bezüge, die das Buch so geistreich, vielschichtig und anregend machen. Die Geschichte selbst ist vielleicht nicht ganz so stark wie im Vorgänger Herbst, lässt aber unbedingt Vorfreude auf Frühling aufkommen.
Dominique Manotti – Marseille.73
Dass ich ein großer Fan der Kriminalromane von Dominique Manotti bin, ist kein Geheimnis.
Ihre meist an reale Ereignisse der französischen Zeitgeschichte angelehnten, politisch sehr engagierten und sprachlich eher spröden, an Reportagen angelehnten Polizeiromane aus Marseille sind für mich mit das beste, was das Genre so zu bieten hat.
Diesmal sind die rechtspopulistischen Umtriebe und Gewalttaten, die 1973 die südfranzösische Stadt in Atem hielten, Hintergrund. Die Spannungen zwischen aus der ehemaligen Kolonie Algerien nach Ende des Kriegs zurückgekehrten Franzosen, den Pieds-Noirs, die sich in teils gewaltbereiten Organisationen zusammenfanden, den vor Verfolgung geflüchteten algerischen Hilfstruppen, der Harkis, den vor dem wirtschaftlichen Niedergang Algeriens flüchtenden, arbeitssuchenden Nordafrikanern, Gewerkschaften und Alteingesessenen macht die Lage so brisant. Da kommt es zur brutalen Ermordung eines Busfahrers durch einen geistig verwirrten Algerier. Der Funke im Pulverfass….
Christoph Peters Dorfroman wurde zu meinem Lesehighlight im Januar. Die Kindheits- und Jugendgeschichte ist geschickt verflochten mit Gedanken über den Umgang mit den nun alten Eltern, über das Vergehen der Zeit, die Veränderung der Welt. Hintergrund der Rückblicke ist der Bau des Schnellen Brüters in Kalkar in den 1970er und 1980er Jahren und der vehemente Protest dagegen. Zeithistorisch interessant, ist der Roman natürlich auch für alle, die wie ich zur gleichen Zeit wie Autor/Erzähler erwachsen wurden, eine Erinnerungsfundgrube. Das Zusammenprallen von konservativ-katholischer Landbevölkerung und den Anfängen ökologischer, linksliberaler Bewegung und die Veränderung des heranwachsenden Erzählers bearbeitet der Autor durch sehr interessante Perspektivwechsel. Stilistisch großartig und mit einer wunderbaren Art von Humor, ist dies eine ganz dicke Leseempfehlung!
Steven Price – Der letzte Prinz
Der Kanadier Steven Price schreibt einen Roman über den alternden, von Krankheit gezeichneten Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Der Sizilianer ist der letzte Fürst von Lampedusa. Kinderlos, wird dieser Titel nach seinem Tod verloren gehen. Durch die Adoption des jungen Gioacchino Lanza wählte er seinen Erben. Seine bedeutendste Hinterlassenschaft ist sicher der Roman „Der Leopard„. Zunächst von verschiedenen Verlagen abgelehnt, konnte er erst nach dem Tod des Fürsten erscheinen und gehört seitdem zu den großen italienischen Klassikern. Steven Price erzählt von den letzten Jahren Tomasi di Lampedusas leise, empathisch und stimmungsvoll. Hat mir sehr gefallen.
Hanne Ørstavik – Roman.Milano
Hanne Ørstaviks Roman habe ich bereits diesen Frühsommer gelesen. Da ich ihn für die Zeitschrift Buchmarkt vorstellen wollte, durfte ich bereits in die pdf-Fahnen hineinschauen. Nun habe ich ihn mit mehr Muße und Ruhe gelesen. Etwas, das dem Buch absolut zugute kommt. Denn auch Hanne Ørstavik lässt sich Zeit für ihre Figur, die junge norwegische Architektin und Illustratorin Val, die zu ihrem älteren Freund Paolo nach Mailand gezogen ist. Hier treibt sie, nur durch gelegentliche Illustrationsaufträge beschäftigt durch die Stadt und ihr Leben. Als Kind sehr früh von den Eltern verlassen und bei der Tante großgeworden, beherrscht sie das Gefühl, nicht gewollt zu werden fast zwanghaft. Auch die Beziehung zum noch verheirateten Paolo leidet darunter. Manche traumhaften Szenen befremden, aber sehr viele poetische Momente, besonders wenn die Protagonistin durch die Straßen Mailands wandert, verzaubern nachhaltig, nicht zuletzt durch Ørstaviks schöne Sprache. Die Protagonistin sucht nach ihrem eigenen, „sicheren“ Platz in der Welt und schafft ihn für drei Zufallsbegegnungen in ihrem Kopf auf sehr poetische Weise. Ein Leseerlebnis.
Simon Stranger – Vergesst unsere Namen nicht
Wie Hanne Ørstavik konnte ich auch Simon Stranger 2019 auf der Buchmesse während eines Blogger-Autoren-Treffens kennenlernen. Er erzählte sehr eindrucksvoll, wie das Haus, in dem seine Schwiegermutter Grete aufwuchs, zum Kristallisationskern seines Romans Vergesst unsere Namen nicht wurde. Einst war es das „Bandenkloster“. Hier lebten, folterten und töteten die Männer und Frauen um Henry Rinnan während der deutschen Besatzungszeit. Auch wenn man schon viel Literatur aus und über diese Zeit gelesen hat, kommen immer wieder solche Bücher, die unfassbare, vorher nicht bekannte Dinge erzählen. Die menschliche Grausamkeit kann grenzenlos sein. Der Rinnan-Bande wurde von den Deutschen fast unbegrenzte Machtbefugnisse zugestanden, um Widerstandsorganisationen zu infiltrieren und deren Mitglieder zu foltern, ihnen Informationen und Geständnisse abzupressen und viele schließlich zu töten. Die Villa im Jonsveien 46 war Hauptquartier und Tatort zugleich. Hier in Trondheim ist auch ein Stolperstein für den Großvater von Grete, Hirsch Komisar, verlegt. Der Urgroßvater von Simon Strangers Frau Rikke wurde von hier ins Strafgefangenenlager Falstad deportiert und dort im Rahmen einer Strafaktion erschossen. Seine Frau Marie, die beiden Söhne und die Tochter konnten nach Schweden flüchten. Nach dem Krieg wurde das „Bandenkloster“ zum etwas unheimlichen Zuhause der zurückgekehrten Familie Gerson Komisars.
Der formale Aufbau nach Stichworten aus dem Alphabet A-Z überzeugt nicht zur Gänze, auch räumt Simon Stranger der Persönlichkeit von Henry Rinnan für mein Empfinden zu viel Raum ein, psychologisiert hier zu viel. Dennoch ist das Buch eine eindeutige Leseempfehlung, fügt der Geschichte der Shoah eine für mich neue Seite hinzu und ist stellenweise so aufwühlend, dass man seine Lektüre so schnell nicht vergisst.
Insgesamt bescherte mir die Lektüre im Januar 2021 einen wunderbaren Lesemonat. So kann das Jahr gerne weitergehen (aber bitte nur lesetechnisch).
Hallo Petra,
ich bin schon unheimlich gespannt, wie sich unser Debüt-Lesekreis entwickeln wird! Noch habe ich in die Ameisenmonarchie nicht reingelesen, aber sie ist fest einplant, so dass ich rechtzeitig fertig werden sollte.
Im Moment verliere ich ein wenig den Überblick, wo und wann welche Online-Veranstaltungen zu finden sind! Aber es ist ja schön, dass das Angebot so weitgestreut ist.
Deine Lektüre war im Januar ja sehr vielfältig und interessant! Da sind ein paar Bücher bei, die mich auch interessieren.
LG,
Mikka