Johanns Bruder ist der zweite Roman des Autors und Schauspielers Stephan Lohse. Gemeinhin gilt der zweite Roman immer als der schwierigste, besonders wenn das Debüt so viel Aufmerksamkeit erhielt und so gelungen war wie Ein fauler Gott von 2017. Stephan Lohse stellt sich der Herausforderung und wagt einiges. Zwar ist auch Johanns Bruder – der Name verrät es – eine Brüdergeschichte, diesmal packt der Autor aber noch eine schwere zeitgeschichtliche Last in seinen Text.
„Du befindest dich auf einer seltsamen Pilgerreise, um eine Schuld abzutragen, die du, offenbar ein bisschen größenwahnsinnig geworden, auf dich genommen hast.“
So spricht Johann zu seinem Bruder Paul, zu dem er einst ein sehr enges Verhältnis hatte, den er aber nun nach 28 Jahren zum ersten Mal wiedersieht. Man hat Johann verständigt, dass sein vier Jahre älterer Bruder, nachdem er in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide siebzehn Hühner getötet, geköpft und an der dortigen Bushaltestelle ausgelegt hat, in die psychiatrische Klinik in Celle eingeliefert wurde. Johanns Telefonnummer war die einzige, die in Pauls Handy eingespeichert war.
Brüder
Johann befindet sich gerade in einer schmerzhaften Trennung von seinem Freund Lukas, mit dem Job steht es nicht zum Besten, er ist trotz seiner bald vierzig Lebensjahre reichlich ziellos. So fährt er auch sofort von Berlin los gen Westen.
Paul ist ein besonderer Mensch. Seit die Mutter die Familie und damit die Brüder als kleine Jungen verlassen hat, spricht Paul nicht mehr. Und auch sonst läuft sein Leben in einer etwas anderen Spur. Er arbeitet in einer Bibliothek und hat sein Leben auf den ersten Blick im Griff. Mit seiner Umgebung kommuniziert er mit einem der alten „Wunderblöcke“, einer magnetischen Schreibtafel, und unzähligen vorgeschriebenen Zetteln, die er in akribisch sortierten Plastiktüten mit sich herumschleppt. In seinem Inneren toben aber nicht nur die alten Verletzungen durch die verschwundene Mutter, sondern auch eine ganz andere Obsession.
Paul ist von der Geschichte der Shoah, von den in Deutschland errichteten Konzentrationslagern, den grausamen Verbrechen während der Nazidiktatur geradezu besessen. Besonders eine Person lässt ihn offensichtlich nicht los: SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der Organisator von Verfolgung, Vertreibung und Deportation der europäischen Juden und damit mitverantwortlich für die Ermordung von schätzungsweise sechs Millionen Menschen. Nach Kriegsende gelang es Eichmann dank alter Seilschaften, in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide unterzutauchen.
Genau, es handelt sich dabei um eben jenes Altensalzkoth, in dem Paul unter den Hühnern wütete. Eichmann betrieb dort als Otto Heninger von 1946 bis 1950 eine Hühnerfarm, bevor er über die „Rattenlinie“ wie etliche Kriegsverbrecher nach Südamerika floh. 1960 gelang israelischen Geheimagenten in Buenos Aires die Entführung Adolf Eichmanns. Er wurde nach Jerusalem überstellt und im dortigen Prozess zum Tode verurteilt.
Der 52. Breitengrad
Dieses düstere Kapitel deutscher Geschichte treibt Paul um. Intensiv hat er sich mit den Fakten vertraut gemacht, nun will er nach seiner Entlassung aus der Klinik mit Johann eine Reise auf diesen Spuren machen. Altensalzkoth ist die erste Station, das nahegelegene Bergen-Belsen, einst Standort des Konzentrationslagers, in dem mehr als 52.000 Menschen starben, die zweite. Es ist eine Reise entlang des 52. Breitengrades, auf dem auch Celle liegt, Berlin, die Heimatstadt der Brüder und das Ziel der Reise, Bergen in den Niederlanden. Hier stand bis 1941 das Sammellager Schoorl.
Zahlreiche dokumentarische Abschnitte unterbrechen die Brüder- und Reisegeschichte. Neben Eichmann bekommen die aktiv und auf grausamste Weise in den Holocaust verstrickten Polizeibataillone 309 und 322, die Geschichte der Befreiung von Bergen-Belsen und in deren Zusammenhang ein berühmt gewordenes Foto besondere Aufmerksamkeit. Im Hintergrund steht immer die Frage, die auch Stephan Lohse nach eigener Auskunft schon als Kind beschäftigte: Kann man das Böse erkennen? In Menschen, denen man begegnet, aber auch in Landschaften, die Orte von Gräueln wurden. Beeindruckend gelungene Landschaftsbeschreibungen von Stephan Lohse sind somit auch Teil von Johanns Bruder.
Roadtrip
Bei allem Interesse und aller Bewegtheit, mit denen man diesen Recherchen und Überlegungen folgt, stellt sich allerdings auch die Frage, wie gut das alles mit der Brüder-Geschichte verwebt ist. Ob man die Grauen der Shoah überhaupt auf diese Art und Weise in eine Art Road-Novel, die auch das Verhältnis der Brüder zueinander auslotet, integrieren kann. Die zweite Frage kann man, denke ich, mit Ja beantworten. Die historischen Fakten werden hier nicht nur zur Aufwertung einer Familiengeschichte missbraucht, sondern sind tatsächlich zentral. Im Gegenteil verblasst die Familiengeschichte dahinter, wird immer unwichtiger. Und damit beantwortet sich auch die erste Frage mit „nur bedingt“.
Dabei liegt auch in der Geschichte von Johann und Paul einige Brisanz. Nicht nur die Mutter, die ihre beiden Söhne früh verlassen und, man spürt es im ganzen Buch, traumatisiert hat, auch der streng bis fanatisch religiöse Vater, der häufig zu Gewalt gegenüber Johann, dem aufsässigeren und offensichtlich homosexuellen Sohn, neigte, trug zur Dysfunktionalität der Familie bei. Das Verstummen Pauls kommt hinzu und das Beziehungsende bei Johann. Alles ein wenig viel. Zum Glück kann sich die Leser*in aussuchen, was für sie am spannendsten ist und der Roman funktioniert auch dann noch. Bei mir waren es eindeutig die zeitgeschichtlichen Bezüge.
Als Besonderheit sind die Kapitel mit den genauen geografischen Koordinaten überschrieben, so dass man, wenn man mag, dieser berührenden, mit feinem Humor durchwirkten Geschichte auch auf der Landkarte folgen kann.
Auf dem Blog „Bücheratlas“ hat der Schriftsteller Gunther Geltinger das Buch empfohlen
Beitragsbild: Gedenkstein Bergen-Belsen by Wietzebilder, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
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Stephan Lohse – Johanns Bruder
Suhrkamp September 2020, Gebunden, 343 Seiten, € 22,00
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