Im Februar habe ich noch überwiegend Bücher aus dem vergangenen Herbst gelesen, bevor ich mich bei der Lektüre jetzt langsam den Neuerscheinungen des Frühjahrs 2021 zuwende. Ein paar Nachzügler werden es ganz sicher auch noch auf meine Leseliste schaffen, aber die frischen Titel locken doch sehr.
Bernardine Evaristos Mädchen, Frau etc. ist beispielsweise eine solche Neuerscheinung. 2019 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, hochgelobt und auch hier in Deutschland schon mächtig bejubelt. Schönes und wichtiges Buch, keine Frage, völlig umgehauen hat es mich aber nicht. Einen weiteren Frühjahrstitel habe ich in Vorbereitung zu einem feinen, kleinen Bloggergespräch mit der Autorin, veranstaltet vom Penguin Verlag gelesen, Die nicht sterben von Dana Grigorcea. Meine Meinung dazu war gemischt. Der dritte bereits gelesene Titel wiederum hat mich sehr positiv überrascht. Ein Debüt von Esther Becker Wie die Gorillas konnte mich voll und ganz überzeugen.
Hier nun also meine Lektüre im Februar 2021:
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Jonas Hassen Khemiri – Die Vaterklausel
Die Vaterklausel geht so: Der Vater, der lieber im Ausland lebt, aus Steuergründen aber einen Wohnsitz in Schweden behalten möchte, überlässt dem Sohn seine mietgünstige Wohnung in Stockholm. Im Gegenzug kümmert sich der Sohn in dessen Abwesenheit m Post, Papierkram etc. Klingt einfach und für beide günstig. Wäre der Vater nicht so ein egozentrischer Patriarch. Und wäre die Familie nicht seit langem ziemlich zerrüttet. So wird einer der halbjährlichen Besuche wieder einmal zu einer Belastungsprobe. Wir lernen sie in Jonas Hassen Khemiris Roman kennen: den sturen Vater, den ständig überlasteten und tief mit dem Vater hadernden Sohn, dessen erfolgreiche Freundin, die vermeintlich unabhängige Schwester. Eine Familienaufstellung, die so berührend wie humorvoll ist. Nach seinem Roman Alles, was ich nicht erinnere ein weiterer toller Text.
Dana Grigorcea – Die nicht sterben
Mit Übersinnlichem, Mythischem, Surrealen kann man mir normalerweise nicht kommen. Vampirromane haben daher eigentlich keine Chance. Deshalb habe ich den neuen Roman von Dana Gigorcea zunächst aussortiert. Eine Einladung zu einem Bloggerabend mit der Autorin und dem Team von Penguin haben mich dann doch zum Buch greifen lassen, das ja auch eine Bezugnahme auf aktuelle und vergangene Gesellschaftszustände, Korruption etc. in Rumänien verspricht. Der Abend war ausgesprochen nett, ebenso die Autorin, und das Buch überraschend. Große Teile finde ich gelungen, auch die historischen Exkurse in das Leben von Fürst Vlad III. Drăculea, dem „Pfähler“, im 15. Jahrhundert sind drastisch, aber sehr interessant. Bei den (wenigen) Episoden, in denen die Protagonistin, Studentin in Deutschland auf Heimatbesuch in Rumänien, ins Fliegen kommt, gar Vereinigungsphantasien mit Dracula hat, verliert mich die Autorin leider vorübergehend. Nicht unerwähnt lassen möchte ich die durchaus problematische Verwendung des Z-Wort im Text. Insgesamt gesehen aber ein lesenswerter Text.
Frederic Wianka – Die Wende im Leben des jungen W.
Frederic Wianka hat einen Text über die Wendezeit geschrieben. Rückblickend schreibt der gescheiterte Künstler W., man darf durchaus an die anderen jungen W.s der Literaturgeschichte denken, einen Brief an einen alten Freund, erinnert an den Ungarnurlaub 1989, seine Versuche, als Künstler nach der Wende im neuen Staat Fuß zu fassen, an eine gescheiterte Liebe, den tragischen Tod der Mutter. Seine fragile Stimmungslage kurz vor oder inmitten von Depression und Manie findet einen Widerhall im Stil des Textes: verdichtet, kurze Sätze – der Autor selbst sprach von „Gedankenstakkato“ -, Erinnerungen, Gedanken, Assoziationen. Das schafft einen ganz eigenen Rhythmus, mit dem ich persönlich nicht so gut klarkam. Ein sprachlich anspruchsvolles Debüt.
Esther Becker – Wie die Gorillas
Mein Lieblingsbuch des Monats ist ebenfalls ein Debüt. Esther Becker schreibt darin über den nicht einfachen Weg zur Frau. Es geht viel um den Körper, darum, wie er in der Gesellschaft wahrgenommen wird, wie schwer es ist, sich darin wohlzufühlen, welche Ansprüche an ihn gestellt werden. Es geht um das Bild der Frau in der Gesellschaft. Anhand der Kämpfe, die die Protagonistin ausficht, wird das Erwachsenwerden junger Frauen thematisiert. Und das durchaus humorvoll. Stilistisch geradlinig, gut zu lesen, aber auch experimentierfreudig. Sehr zu empfehlen!
Bernardine Evaristo – Mädchen, Freu etc.
Das ist sicher eines DER Bücher des Frühjahrs. Bernardine Evaristos 2019 mit dem Booker Prize ausgezeichnetes Buch erhält auch bei uns riesige Aufmerksamkeit. Die Lebensgeschichten von 12 britischen Frauen, fast alle davon People of Colour, viele lesbisch, aus unterschiedlichen Gesellschaftsklassen, mit ganz verschiedenen Lebenshintergründen plus etliche Nebenfiguren entfalten ein Panorama modernen (weiblichen) Lebens, das dezidiert divers ist. Der Autorin sind die lose Verknüpfung der Geschichten und auch die einzelnen Geschichten sehr gut gelungen, sprachlich top, auch in der Übersetzung von Tania Handels. Lediglich das letzte Kapitel, wo alles noch einmal zusammengeführt wird, finde ich weniger überzeugend. Interessant ist, dass die englische Ausgabe sich die Bezeichnung „Roman“ ebenso verkneift wie das eigentliche Buch. Auf dem Buchumschlag taucht es dann wieder auf. Und für mich die Frage: lässt sich in Deutschland wirklich nur ein Roman verkaufen? (selbst wenn es eigentlich keiner ist?)
Stephan Lohse – Johanns Bruder
Paul spricht nicht, seitdem die Mutter die beiden Jungen verlassen hat. Mit einer Magnetschreibtafel und tütenweise Zetteln kommuniziert er mit seiner Umwelt. Ganz eng ist er mit seinem jüngeren Bruder Johann, der immer wieder Opfer von Wut- und Gewaltausbrüchen des fanatisch religiösen Vaters wird.
Nun haben sich die Brüder 28 Jahre nicht gesehen. Und Johann erreicht ein Anruf der Psychiatrie in Celle: sein Bruder wurde in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide aufgegriffen, weil er dort siebzehn Hühner, getötet, geköpft und an der Bushaltestelle ausgelegt hat. Was es damit auf sich hat und was das ganze mit der Vergangenheit und mit Adolf Eichmann zu tun hat, erzählt Stephan Lohse in „Johanns Bruder“.
Hin und wieder knirscht die Zusammenführung von Brudergeschichte und Holocaust-Gedenken, funktioniert aber über weite Stecken erstaunlich gut. Ein ganz eigener Roadtrip entlang des 52. Breitengrades und die Frage Kann man Böses sehen/erkennen?
George Orwell – Die Farm der Tiere
Im letzten Jahr jährte sich der siebzigste Todestags George Orwells. Seine Aktualität lässt sich daran ablesen, wie zahlreich die in diesem Jahr nach Ende des Urheberrechts erscheinenden Neuausgaben, teils mit Neuübersetzungen, sind. DTV, Rowohlt, Fischer, Anaconda, Reclam, Insel, Fischer zumindest bei Orwells wohl bekanntestem Buch, 1984, hat man die Qual der Wahl. Und auch die schmale Parabel Die Farm der Tiere erscheint in drei Neuübersetzungen, wovon mir die Manesse-Ausgabe nicht nur optisch am besten gefällt. Auch die Übersetzung von Ulrich Blumenbach mit den kleinen Anpassungen überzeugt. Und Eva Menasse hat ein informatives Nachwort beigesteuert. Von Orwell als Kritik an und Mahnung vor der stalinistischen Herrschaft konzipiert, passt das „Märchen“ von der Revolte der Tiere gegen ihren Bauern, die Errichtung einer Selbstregierung durch die Tiere auf dem Hof und die Herausbildung neuer rücksichtsloser Machteliten praktisch auf alle nach erfolgten Revolutionen errichteten Totalitarismen. Ein Klassiker!
Ein Gedanke zu „Lektüre Februar 2021“