Es gibt Romane, die kommen auf eher leisen Sohlen und packen die Leser:innen dann unverhofft und hinterrücks umso intensiver. Um solch ein Buch handelt es sich beim Debütroman Wie die Gorillas der 1980 geborenen und bisher vor allem als Dramatikerin hervorgetretenen Esther Becker. Es sind nur gut 150 locker bedruckte Seiten und zunächst recht belanglos scheinende Alltagsepisoden mit denen das Buch beginnt.
Eine im ganzen Roman unbenannt bleibende Ich-Erzählerin erzählt von sich als Kind. Von einem Augenarztbesuch, bei dem sie sich vehement gegen die Verabreichung von diagnostischen Augentropfen gewehrt hat. Von ihrer Rebellion gegen ein im Schwimmunterricht gefordertes Bikinioberteil, das auf ihrer noch völlig flachen Brust lästig hin und her rutscht. Kinderalltag, unspektakulär. Doch bereits im nächsten Abschnitt begreift man, dass es sich schon hier um ganz wesentliche, nicht einfach beiseite zu wischende Eingriffe in die körperliche Selbstbestimmung des Kindes, des Mädchens handelte. Auch wenn oder gerade weil sie alltäglich sind und quasi in homöopathischen Dosen daherkommen. „Ich bin ein schwieriger Fall“ sagt die Ich-Erzählerin über sich. Dabei soll ein Mädchen doch möglichst nicht auffallen, schon gar nicht unangenehm. Viele Mädchen wählen das „sich schmal machen“, oft im wörtlichen Sinn, unsichtbar werden.
Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden
„Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden? Wenn deine Kinder Töchter sind und Frauen werden, was machst du dann?“
Ein Schlüsselsatz, der im Buch mehrmals vorkommt und es auch schließt.
Mädchen wachsen anders auf als Jungen. Eine Binsenwahrheit, über die noch einmal nachzudenken mir dieser Roman mit einer überraschenden Vehemenz nahelegt. So als hätte ich das nicht schon unzählige Male getan, als gäbe es nicht unzählige Texte feministischer Theorie und Literatur dazu. Aber gerade weil wir Esther Becker und ihrer Ich-Erzählerin in Wie die Gorillas auf einem wenig spektakulären Weg vom Kind zum Mädchen und zur jungen Frau folgen, weil wir sehr bald merken, wie typisch dieses weibliche Aufwachsen ist.
Es wird in groteskem Ausmaß von Körperlichkeit bestimmt. Zu dick, zu dünn, zu groß, zu klein, Mund zu schmal, Haare zu fettig, Haut zu unrein – es gibt unendliche Dinge, die man am eigenen Körper ablehnen kann. Und schon das kleine Mädchen lernt, dass man gewissen Normen genügen soll, dass man an sich “arbeiten“ kann, um ihnen möglichst nah zu kommen. Dass der eigene Körper immer eine Baustelle bleibt und immer diesen taxierenden Blicken und der eigenen Kritik ausgesetzt ist. Da sprießen Haare, die weg müssen, da sind Speckröllchen die weggehungert werden müssen, da fließt monatlich Blut, was man tunlichst verbergen sollte. Viele weibliche Körpererfahrungen sind mit Scham besetzt. Welches junge Mädchen ist schon rundum zufrieden mit ihrem Körper, fühlt sich dort rundum zuhause und wohl? Frei nach Laurie Penny:
„Wenn alle Frauen dieser Erde morgen früh aufwachten und sich in ihren Körpern wirklich wohl und kraftvoll fühlten, würde die Weltwirtschaft über Nacht zusammenbrechen”
Schwerer Weg zur eigenen Körperlichkeit
Auch die Protagonistin findet ihren Weg nur sehr zögerlich und langsam. Die Eltern sind mit sich selbst beschäftigt, sind keine große Hilfe. Der Vater bekennt sich gerade zu seiner Homosexualität, die Mutter verliebt sich neu. Trotzdem ist sie noch besser dran als Olga. Deren streng religiöse Eltern engen sie extrem ein und kontrollieren alles. Die dritte in Freundinnenbund, Svenja ist die freieste und selbstbewussteste, aufgewachsen bei fürsorglichen, unterstützenden, liberalen Eltern. Was sie aber auch nur minimal vor der durchweg sexistischen Gesellschaft zu schützen vermag. Sie träumt von einer Karriere als Schauspielerin. Wie es gerade in der Film- und Theaterbranche zugehen kann, haben wir erst in jüngster Zeit wieder erfahren.
Zu dritt ziehen die Freundinnen einmal durch die Straßen, die Brüste für eine „Hosenrolle“, für die Svenja probt, stramm mit elastischen Binden abgebunden. „Wie die Gorillas“ fühlen sie plötzlich eine neue körperliche Freiheit.
Es sind viele kleine Episoden einer typischen Frauenbiografie, die zu Beginn ganz harmlos daherkommen oder auch oft trotz ihrer Ungeheuerlichkeit als etwas Alltägliches verbucht werden. Einmal wird das junge Mädchen beim abendlichen Heimweg fast in ein Gebüsch gezerrt. Einmal müssen sie und Svenja für einen Hostessenjob bei einer Preisverleihung in absurd kurze Kleidchen und High Heels schlüpfen. Am Theater soll Svenja in einer Inszenierung barbusig in hohen Schuhen über ausgestreute Kartoffeln stöckeln – ohne wirklichen Bezug zum aufgeführten Stück. Welche Frau kennt nicht ähnliche Situationen.
Kurze Episoden
Aus vielen kleinen Puzzleteilen setzt sich die Biografie der drei Freundinnen zusammen, ob im Nagelstudio, beim Tätowierer oder im Job. Kurze, locker gesetzte Kapitelchen, leicht und durchaus auch mit einer gewissen Komik zu lesen, die aber zunehmend unheimlich, beängstigend und aufwühlend wirken. Ja, so ähnlich lief auch die eigene Sozialisation ab. Viele Erfahrungen hat die Leser:in genauso auch gemacht. Genauso wenig hat sie sich zuhause gefühlt in ihrem Körper und der Welt, genauso stark gehadert mit den Zuschreibungen von außen, wie sie zu sein hat, was an Körperoptimierungen gefordert wird, welche Regeln für sie als Frau nun gelten sollen. Einschneidende, einengende, beängstigende Regeln zumeist.
32 kurze Episoden , die bewusst Lücken lassen. Und gerade dadurch merkt die Leser:in, wie weit das Aufwachsen als Mädchen immer noch von dem als Jungen entfernt ist. „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“. Der erste Satz aus Simone de Beauvoirs berühmter Schrift „Das andere Geschlecht“ gilt erschreckenderweise trotz aller Errungenschaften des Feminismus und der Emanzipation auch mehr als siebzig Jahre später unverändert.
„Körperroman“ war wohl ein Arbeitstitel von Esther Becker, die Freundinnengeschichte hat im Schreibprozess nach und nach eine immer größere Bedeutung gewonnen. Es wurde „Wie die Gorillas“ daraus. Etwas, das auch Hoffnung macht, übliche Zuschreibungen für Beziehungen unter Mädchen unterläuft. Solidarität statt Konkurrenzkampf.
„Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden? Wenn deine Kinder Töchter sind und Frauen werden, was machst du dann?“
Esther Becker gibt in Wie die Gorillas keine Antworten darauf. Dass sie die Fragen stellt ist auch heute noch wichtig. Mich hat sie dazu gebracht, intensiv darüber nachzudenken. Ein großartiges Debüt!
Beitragsbild: Trauriges Mädchen #1 by Christian Koehn (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr
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Esther Becker – Wie die Gorillas
Verbrecher Verlag Januar 2021, Hardcover, 160 Seiten, 19,00 €
Als ich dieses Buch lieste, habe ich die Perspektive die Hauptfigurin mehr und mehr verstanden. Becker hat eine Ich-Erzaehlerin geschrieben und die verschiedene Schwierigkeiten die die Hauptfigurin erfaehrt sind fuer viele Maedchen und Frauen bekannt. Ich finde es wichtig, dass Becker diese Frage „Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden?“ nicht antwortet; wir muessen alle diese Frage selber antworten.
Du hast mich überzeugt, liebe Petra.
Ich werde es lesen.
Danke für den Tipp
Silvia
Liebe Silvia, ich hoffe, du bist nachher genauso überzeugt wie ich. Auf Bozena und Patrick hat es ja nicht ganz so stark gewirkt. Für mich war es das richtige Buch im richtigen Moment. Gute Lesezeit!