Bernardine Evaristo – Mädchen Frau etc.

Die wohl mit am meisten ersehnte, am häufigsten besprochene und höchst gelobte Neuerscheinung dieses Bücherfrühlings ist wohl „Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo. 2019 relativ unerwartet mit dem Booker Prize ausgezeichnet (neben Margaret Atwoods Die Zeuginnen), hat sich der Roman über zwölf sehr diverse (Frauen)leben nicht nur blendend verkauft und wurde zu einem Lieblingsbuch für viele Leser:innen, sondern erhielt auch durchweg begeisterte Besprechungen.

Zwölf Frauen im heutigen Großbritannien oder mit einem starken biografischen Bezug dazu, die meisten davon sind People of Colour, einige lesbisch, eine Figur ist non-binär. Quer durch die Gesellschaftsschichten, Generationen und Lebensweisen bieten sie ein Kaleidoskop der britischen Gesellschaft, wie es in dieser Diversität gar nicht so oft in der Literatur gezeigt wird. Und werden dabei von zahlreichen Nebenfiguren unterstützt.

Der Figurenreigen

Den Reigen eröffnet Amma, deren Theaterstück „Die letzte Amazone von Dahomey“ im National Theatre Premiere feiert, was den erzählten Lebensgeschichten einen Rahmen verleiht. Denn viele der Frauen haben einen direkten Bezug zu Amma und/oder besuchen die Aufführung. Sie kennen einander oder haben auf die eine oder andere Weise Anteil am Leben der anderen. Hauptfiguren der einen Geschichte werden zu Nebenfiguren einer anderen. Dadurch verschieben sich oft die Perspektiven, muss die Leser:in auch immer wieder ihre Stellung zu den Protagonist:innen überdenken. Komplex und interessant sind sie alle.

National Theatre London
National Theatre London by Maria Cano (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr

Gegliedert ist das Buch in vier Kapitel mit jeweils drei Frauen, die sich nahe stehen und deren Geschichten jeweils 30 bis 40 Seiten umfassen.

Da ist die Theaterautorin Amma, nach eigenem Bekunden ein „altgedientes Schlachtross“ im Theatergeschäft. Lesbisch, polyamor, feministisch und seit den Achtzigern gegen den Mainstream und gegen die Konventionen mit ihrem „Bush Women Theatre“ anrennend, ist sie nach dem großen Erfolg von der „Amazone“ dabei, Teil des einst so verhassten Establishments zu werden. Mit ihr teilt die Theaterautorin Bernadine Evaristo einige biografische Gemeinsamkeiten in Mädchen, Frau etc.

Ammas alte Freundin und obercoole Mitstreiterin Dominique lebt schon lange in den USA, wo sie vorübergehend in einer Frauenkommune gelebt hat, nun aber schon lange mit ihrer Partnerin Laverne und den beiden adoptierten Zwillingen in L.A. lebt. Die dritte im ersten Bunde ist Ammas Tochter Yazz, die sie durch Samenspende mit ihrem schwulen Freund, dem Autor und Professor Roland gezeugt hat. Yazz ist typische Vertreterin der „Generation Woke“, ziemlich selbstgerecht, ziemlich überheblich, illusionslos und egozentrisch. Insgesamt mochte ich dieses Trio von allen am wenigsten und blieb nur aufgrund von Bernardine Evaristos wirklich großartiger „Schreibe“ am Ball.

Zwölf Lebensgeschichten

Wie sie die verschiedenen Lebenswege lakonisch und doch empathisch erzählt, ganze Lebensgeschichten auf wenige Seiten herunterbricht, immer einen ganz spezifischen Ton trifft und eine bemerkenswerte Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Personen wahrt, ist wirklich beeindruckend und mitreißend. Ihre Geschichten sind immer voller Wärme, zugleich mit leichtem Humor und leiser Ironie versehen. Das liest sich ganz wunderbar und lässt vergessen, dass das Buch ziemlich plotlos daherkommt. Die Rahmengeschichte rund um die Theateraufführung kommt einer Handlung noch am nächsten. Ansonsten ist es sich eher um eine Aneinanderreihung von Lebensgeschichten. (Die Bezeichnung „Roman“ befindet sich auch nur in der deutschen Ausgabe auf dem Buchumschlag.)

Die aber haben es in sich. Spätestens ab den zweiten „Trio“ vermögen sie restlos zu fesseln. Da sind Carole und ihre Mutter Bummi. Carole hat die Tragödie ihres Lebens, als sie mit 13 sturzbetrunken gruppenvergewaltigt wurde, nie jemandem erzählt. Ihr Weg führte sie mit Glück, Protektion und harter Arbeit nach Oxford und in die höheren Etagen einer Investmentbank. Ihre Mutter Bummi wuchs in Nigeria auf. Die Eltern verstarben früh, dennoch bewältigte sie ein Mathematikstudium. Nach der Emigration nützte ihr das allerdings herzlich wenig. In London musste sie wie so viele ihr Geld als Reinigungskraft verdienen. Nach dem frühen Tod von Caroles Vater schreckt sie auch nicht vor drastischen Mitteln zurück, um sich den Traum von einer eigene Reinigungsfirma zu verwirklichen. Und auch LaTisha, Caroles Schulfreundin, schlägt nicht den vermeintlich vorbestimmten Weg ein, der scheinbar zwangsläufig nach unten führt.

https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/
Bernardine Evaristo, Copyright: Jennie Scott via Klett-Cotta
gegen Rassismus und Patriarchat

Und so geht es weiter mit Frauenschicksalen. Sie führen auch fort aus London, nach Nordengland, nach Barbados, zurück ins späte 19. Jahrhundert, in den Schuldienst, auf den Bauernhof. Oft sind die Geschichten geprägt von abwesenden Männern/Vätern, Rassismus, Armut und Patriarchat. Aber nicht immer. Das Schöne an den Geschichten ist gerade ihre Diversität, das Vermeiden von direkter Anklage und Schwarz-Weiß-Malerei. Obwohl Bernardine Evaristo mit Mädchen, Frau etc. natürlich ein dezidiert feministisches Buch, ein Buch über Intersektionalität, gegen Rassismus und Patriarchat geschrieben hat. Aber eben kein Pamphlet. Und Bernardine Evaristo will auch keine Opfergeschichten schreiben, auch wenn manche Protagonistin eindeutig zum Opfer wurde. Viele Geschichten sind solche der Selbstermächtigung. Auch der Solidarität. Und von der Tonlage her eher hoffnungsvoll.

In Dialogen werden auch gesellschaftliche Debatten, ob Thatcherismus oder Brexit thematisiert, über hundert Jahre britische (Migrations)geschichte fließen hinein und das wird nur ganz selten ein klein wenig didaktisch.

Fusion Fiction

Lediglich das letzte und fünfte Kapitel finde ich relativ misslungen. Hier werden auf der Theaterpremiere einige der Protagonist:innen zusammengeführt. Das knirscht ziemlich. Und macht mir das Trio vom Anfang – Amma, Dominique, Yazz – nochmal so richtig madig. Auch den Epilog, der die rassistische, in „ihrem“ Kapitel aber doch mit so etwas wie Wärme und Verständnis vorgestellte einzige Weiße mit ihrer gar nicht so weißen Abstammung konfrontiert, hätte es meiner Meinung nach nicht gebraucht.

Die in Rezensionen so oft betonte eigenwillige Erzählweise – keine Interpunktion, Kleinschreibung der Satzanfänge, an der Lyrik geschulte Absatzplatzierung, von der Autorin als „fusion fiction“ als Konglomerat von Prosa, Lyrik, Drama bezeichnet – liest sich ganz wunderbar flüssig, erzeugt einen „Leseflow“ und sogartigen Rhythmus. Auch die wirklich großartige Übersetzung von Tania Handels verdient Erwähnung.

Mit ganz kleinen Abstrichen hat Bernardine Evaristo mit Mädchen, Frau etc.“ ein tolles Buch auf der Höhe der Zeit geschrieben, voll mit Lebens-, Liebes- und Familiengeschichten. Schön, dass es nicht zuletzt durch den Booker Prize eine so große Aufmerksamkeit erhält.

 

Beitragsbild: National Theatre, London by Ben Hodgson (CC BY-NC-SA 2.0) via flickr

 

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Bernardine Evaristo - Mädchen, Frau etc.b

Bernardine Evaristo – Mädchen Frau etc. 
Aus dem Englischen von Tanja Handels 
Tropen Verlag Januar 2021, 512 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 25,00

4 Gedanken zu „Bernardine Evaristo – Mädchen Frau etc.

  1. Von der Konstruktion des Romans war ich sehr angetan, er beginnt mit dem Theaterstück „Die letzte Amazone von Dahomey“ im National Theatre und endet mit der Premierenfeier – also eine Art Rahmenhandlung. Daher ist das letzte Kapitel der Premierenfeier auch sehr wichtig, um zu zeigen, dass heute Frauen immer noch um ihre Rechte kämpfen, genauso wie die Amazonen von Dahomey im 19. Jh., die historisch nachzuweisen sind. Ein sehr interessanter und ungewöhnlicher Roman!
    Meine Rezension hier nachzulesen: https://mittelhaus.com/2023/03/16/bernardine-evaristo-maedchen-frau-etc/

  2. Hallo,

    das klingt nach einem Buch, das ich lesen will – wenn ich denn endlich mal wieder eine Lücke zwischen zwei Leserunden habe… Luxusprobleme!

    LG,
    Mikka

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